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Kurzinterpretation - Auf den Tod Hemingways

Heinz Piontek

Auf den Tod Hemingways

Er schlug Worte an
für den Aufgang der Sonne.
 
Er liebt die Tapferkeit,
seinen Engel.
 
Es warf die Hand, die er hob,
einen harten und hellen Schatten:
Löwen im Dorn.
 
Heiß ging sein Atem hervor
aus Bürgerkriegen
um das Weltreich des Weins,
 
und mit der Kühle
untergetauchten Lichts
berief er das Meer.
 
Aber sein Engel verriet ihn.
 
Nur die Brandstifterin
schlang bis zuletzt ihre Arme
um ihn:
 
Du Liebe.
Er ist tot.
 
Gewehre und Gläser
die man an Felsen
zerschlägt.

 

Heinz Piontek: Werke in sechs Bänden. Band 1. Früh im September. Die Gedichte. Gedichte aus fremden Sprachen. München 1982. S. 126 

Erste Buchveröffentlichung: Heinz Piontek: Mit einer Kranichfeder. Stuttgart 1962

© Anton Hirner, Lauingen

Keine Interpretation im herkömmlichen Sinn erwartet den Leser. Ein Gespräch, ein fiktiver Dialog soll Annäherung und Zugang zu Pionteks Gedicht schaffen.

Fragender: ein Student
Antwortender: ein Literaturwissenschaftler.

Die Interpretation in Form eines Rollenspiels und eines Dialogs: eine fragend sich entwickelnde Hinführung an Pionteks Text, der - wie bei der Georg von der Vring gewidmeten „Totenlitanei“ - erneut einen Dichter zum Gegenstand lyrischer Betrachtung macht. Und so, legt das Gedicht auch Zeugnis ab von Pionteks literarischen Bezügen zu Dichterkollegen. Auf dieser Homepage finden sich an anderer Stelle eben diese „Schnittstellen“, Einflüsse und Verbundenheiten.

Gespräch zwischen F (19 Jahre, Student im 2. Semester) und A (51 Jahre, Mitarbeiter eines  Literaturarchivs)

A: Du willst mit mir über Heinz Pionteks Gedicht „Auf den Tod Hemingways“ sprechen. Wir müssen aber schnell zur Sache kommen, denn unsere Zeit ist begrenzt. Vorab nur: Hemingway tötete sich 1961 als 62jähriger mit einem Gewehr selbst. Ein Jahr lang hatte er sich mit einer ihm verordneten antidepressiven Elektroschocktherapie quälen müssen...


F: Gleich eine erste Frage: Warum schrieb Piontek dieses Gedicht? Er kannte Hemingway doch mit Sicherheit gar nicht?


A: Nicht persönlich, aber sehr gut das Werk und anlässlich des Hemingway 1954 verliehenen Nobelpreises war viel über sein Leben berichtet worden. Die Romane und Kurzgeschichten des US-Amerikaners fanden unmittelbar nach dem 2. Weltkrieg – seine ersten Bücher waren allerdings  schon Ende der der zwanziger / Anfang der dreißiger Jahre ins Deutsche übersetzt worden – beim lesenden Publikum sehr viel Anklang. Junge Schriftsteller, nach Vorbildern suchend, schulten sich an seinem Stil und der „Machart“ seiner Geschichten, H. Böll, W. Borchert und S. Lenz, um nur drei zu nennen.


F: Nahm sich auch Piontek ein Beispiel an Hemingway?


A: Ja, einige seiner frühen Erzählungen, z. B. „Erde unter dem Schnee“, „ In den Wäldern“ und vor allem auch solche, die er wohlüberlegt nicht in seinen ersten Sammelband aufgenommen hatte, zeigen deutlich den Einfluss Hemingways, von dem er sich dann allerdings zunehmend frei machte. Hervorzuheben ist vor allem auch Pionteks Essay „Graphik in Prosa“ (1957)*, in dem er eine poetische Ortsbestimmung der Kurzgeschichte vornahm und typische Charakteristika der short story an Hand der berühmten Erzählung Hemingways „Alter Mann an der Brücke“(1938) bestimmte. … Aber wir müssen uns jetzt dem Gedicht zuwenden, an besten fängst du einfach 'mal an.


F: Gibt es eigentlich viele Gedichte auf einen Dichter, auf den Tod eines Dichters?


A: Immerhin so viele, dass man ein ganzes Taschenbuch damit füllen konnte.** In ihm ist auch „Auf den Tod Hemingways“ enthalten.  – Wie ist dein erster Eindruck?


F: Man merkt den Versen in ihrer gedrungenen Kürze und oft wie herausgestoßen wirkenden Kurzzeilen an, dass der Tod Hemingways Piontek sehr beschäftigt, sein Suizid ihm wohl keine Ruhe gelassen hat: „Er ist tot.  /… Gewehre und Gläser / die man an Felsen / zerschlägt“. Aber da fangen meine Schwierigkeiten auch schon an! Wie das Lexikon sagt, ist Felsen ein hartes Gestein. Man hätte also nach seinem Tod das Gewehr, mit dem er sich tötete, gut an ihm zerschlagen können. Aber warum steht hier der Plural „Gewehre“ und warum „Gläser“. Oder meint „Felsen“ hier vielleicht etwas ganz anderes?


A: Hemingway war „ein großer Zecher vor dem Herrn“, wie man so schön sagt, unmäßiges Trinken gehörte wie Schießen von Großwild in Afrika (er hat 1935 mit „Die grünen Hügel Afrikas“ ein ganzes Buch darüber geschrieben) und Frauen – vier Ehen und -zig Liebschaften – zu seinem heute kaum noch nachvollziehbaren Machismo. Nach seinem Tod nun haben Gewehre (er besaß eine ganze Sammlung!) und Gläser keinen Wert mehr, man kann sie zerstören, sein Werk jedoch wird wie ein Felsen die Zeiten überdauern, wie du es vielleicht bei deiner Frage ahntest, ob „Felsen“ hier etwas ganz anderes bedeuten könne.


F: „Nur die Brandstifterin / schlang bis zuletzt ihre Arme / um ihn: // Du Liebe.“. Der erklärende Doppelpunkt verweist darauf, dass die Liebe ihn bis in seine Sterbestunde in Brand gehalten hatte. Ihr Gewicht für sein Leben wird durch das Pronomen „Du“ ausgedrückt.


A: Das genau sagen diese Zeilen! Die Liebe hat ihn während seines Lebens entflammt und blieb bis zur Stunde seines Ablebens (“bis zuletzt“) gleichsam bei ihm, vor seiner Selbstzerstörung aber – der Schuss sprenge ihm die gesamte Schädeldecke weg! –  konnte sie ihn nicht bewahren.


F. Jetzt habe ich das Ende des Gedichts verstanden, aber die Schwierigkeiten beginnen für mich schon am Anfang. Nicht etwa bei „Er schlug Worte an / Für den Aufgang der Sonne“. Die Worte, mit denen er den Sonnenaufgang beschreibt, mit Tönen zu vergleichen, wie ein Pianist sie anschlägt, empfinde ich als sehr anschaulich. Aber hat er tatsächlich Sonnenaufgänge so beschrieben?


A: Um es zu erleben, musst du seine großen Romane lesen, vor allem „Fiesta“. (bezeichnenderweise lautet der englischsprachige Titel „The Sun Also Rises“!), aber auch  Kurzgeschichten wie „Der Schnee auf dem Kilimandscharo“.


F: Dann aber geht es mit dem Unverständnis los. Wieso wird die Tapferkeit als sein Engel bezeichnet, was sind die „Löwen im Dorn“ und bei „Bürgerkriegen um das Weltreich des Weins“ und der „Kühle untergetauchten Lichts“, da kapitulieren ich.


A: Lass mich versuchen, es dir zu erklären: Die Tapferkeit, Wille und Vermögen also, ohne Garantie für eigene Unversehrtheit für etwas zu kämpfen, wird „wie ein Engel“ als eine Immaterialität gesehen, die Schutz und Hilfe gibt. Dass Hemingway in beiden Weltkriegen als Soldat, aber genauso in den gefährlichen Großwildjagden und beim Fischen von Haien tapfer war – man kann dazu stehen, wie man will – wissen wir aus seiner Biographie, auch dass „sein Engel“ ihn zuletzt „verriet“, denn er schütze ihn nicht vor den ihn immer mehr und mehr beherrschenden Depressionen und dem Suizid. Piontek gibt dann drei Beispiele für Hemingways Tapferkeit: Löwenjagd in der Buschsteppe Ostafrikas; Teilnahme am spanischen Bürgerkrieg auf Seiten der Republikaner gegen die Faschisten Francos (s. seinen erfolgreichsten Roman „Wem die Stunde schlägt“); Big Game Fishing von Haien und Schwertfischen vor Kuba...


F: Aber was heißt denn dann nur „berufen“?


A: Bei allen drei Beispielen bedient sich Piontek einer äußerst verknappten – das entspricht der Hemingways! –, aber auch verrätselten Sprache: Die Hand, die er hob und die einen Schatten wirft, bedeutet den zum Schuss ausgestreckte Arm mit der zum Abzug gekrümmten Hand; die leidenschaftliche und ihn prägende Teilnahme am spanischen Bürgerkrieg (die mit Töten von Menschen verbunden war!) wird im Bild des „heißen Atem(s)“ ausgedrückt; „berufen“ meint im  transitiven Sprachgebrauch (ähnlich wie in Formulierungen „in ein Amt berufen“), dass Hemingway in seinem Selbstverständnis das Meer zum offshore sportfishing sich gleichsam auserwählt hatte. Piontek gelingt es auf diese Weise mit ganz wenigen Worten Stationen im Leben Hemingway aufzurufen; möglicherweise wird in den Versen aber auch eine gewisse Distanz ausgedrückt, so bagatellisiert „Weltreich des Weins“ Hemingways politische Engagement im spanischen Bürgerkrieg (wie ich finde: unzulässig).


A: Ohne dich hätte ich das wohl nicht verstanden. Entschuldige aber jetzt bitte meine Arroganz. Mein Unverständnis lag doch nicht nur an mir, sondern auch daran, dass man viel über Hemingway wissen muss, um das Gedicht zu verstehen.


F: Das ist richtig und gilt ganz allgemein für „Gedichte auf Dichter“ (die moderne Lyrik weist  ohnehin eine Tendenz zur „gelehrten Poesie“ auf). Unabhängig davon ist dieses Gedicht in einer „uneigentlichen Sprache“ geschrieben, deren Bildhaftigkeit über die begriffliche (Grund-)Bedeutung, die Denotation, hinausgeht und einen emotiven Bedeutungszusammenhang (Konnotation) besitzt. Eine Sprache also, die dadurch von den alltäglichen Sprachgepflogenheiten abweicht, dass sie sich semantischer Figuren bedient, die zugegebenermaßen oft schwer zu entschlüsseln sind.


A: Semantischer Figuren kenne ich von unserem Deutschunterricht und jetzt vertieft von der Uni her: Allegorie, Symbol, Metapher, Vergleich!


F: Richtig! Viele Leser – ich glaube auch du – machen dann den Fehler, auf die Frage hin, was  zum Beispiel „Fels“ noch meinen könne, bei Wikipedia nachzusehen, weil sie hoffen, dort vielleicht eine „übertragene Bedeutung“ zu finden. Diese aber ergibt sich erst aus dem gesamten Gedichttext und kann darum auch nur aus diesem selbst ermittelt werden. Ein Fels ist etwas Beständiges. Was aber ist bei Hemingway dauerhaft)? Gewiss nicht die Attribute seines Lebens (Gläser, Gewehre), sondern eben sein Werk! Zwei weitere Beispiele: Die Tapferkeit erscheint im Gedicht als „Engel“, nicht weil mit ihr ein Bote Gottes oder ein himmlisches Wesen gemeint ist – die könnten nicht verraten! – , sondern weil sie als eine Immaterialität im Sinne einer Kardinaltugend das Leben Hemingways bestimmend und schützend (aber eben doch nicht ganz!) begleitet hat. Die Liebe wird „Brandstifterin“ bezeichnet, nicht weil sie vorsätzlich oder fahrlässig etwas in Brand gesetzt hat (denotative Bedeutung des Wortes), sondern weil so auf eine ganz bestimmte „übertragene“ Bedeutung für den Protagonisten hingewiesen werden kann (Konnotation). Diese konnotativen Bedeutungen „aus dem Gedicht“ heraus zu ermitteln, ist oft sehr schwierig und manchmal gelingt es auch nicht (mir auch nicht!)... So jetzt sind wir fertig und du könntest jetzt  aus den Elementen, die wir hier gemeinsam herausgearbeitet haben, eine kleine Interpretation verfassen.

*) Heinz Piontek: Graphik in Prosa. In: H.P.: Werke in Sechs Bänden. Band 5. Schönheit: Partisanin. Schriften zur Literatur. Zu Person und Werk.  München 1983
**) Edgar Neis (Hrsg.): Gedichte über Dichter“. Frankfurt 1982, S. 34 ff.

Hartwig Wiedow