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Kurzinterpretation Sprachtabus

Heinz Piontek

Sprachtabus

Was habe ich mit euch zu schaffen,
heute, bei diesem unbotmäßigen
Morgenleuchten?
 
Ich räume dir Platz ein, Seele,
dem Sinnbild Gold und weisen Herbstwind,
wähle ruhig auch dich, Ferne,
altdorferblaues Wort.
 
Ich greife auf das verschlissene Glück
des Vertrauens zurück,
die mit Schweigen bedachte Freundschaft
unter den Menschen
oder auf Wehlaute der Liebe,
die man den Groschenschreibern überlässt.
 
Aus Oktavbänden hole ich mir den Gesang
in pfirsichfarbenen Röcken
Vorübergereister.
 
Ja, ich sage,
dass wir das Schöne nicht fürchten müssen:
 
den Honig, den Apfel,
den Schwan -
 
dass Umarmungen nicht geschmäht werden können
von schwerer Folter.
 
Noch im Winter wird
Staunen sein
und Zärtlichkeit.
 
Du Wortschatz der Stammelnden und Toten!
Ankommen soll es mir heute
auf eine Kraftprobe
deinetwegen -
 
Der Geist und die Braut sprechen:
Komm.

Heinz Piontek: Werke in Sechs Bänden. Band 1. Früh im September. Die Gedichte. Gedichte aus fremden Sprachen. München 1982. S.226 ff.
Erste Buchveröffentlichung: Heinz Piontek: Die Zeit der anderen Auslegung. Darmstadt 1976

Vorbemerkung: Kursierte Wörter und Wortfolgen sind Zitate aus „Sprachtabus“

Die vorliegende Kurzinterpretation zu Pionteks 1976 veröffentlichtem Gedicht ist als Rezension – mehr noch – als „Widerspruch“ konzipiert . Der Interpret entgegnet dem Autor und führt dabei in die literaturgeschichtliche Kontroverse um den Dichter Heinz Piontek ein.

Diesem Gedicht, besser: seiner Aussage, soll hier widersprochen werden:

Unter Sprachtabus versteht man in der Soziolinguistik ein auf gesellschaftlichen Konventionen (Sitte, Brauch, Gewohnheit) und nicht etwa auf staatlichen Gesetzen beruhendes Verbot, gewisse Wörter, Redewendungen und thematische Akzentuierungen in der Öffentlichkeit oder in bestimmten gesellschaftlichen Milieus zu gebrauchen. Verstößt man gegen dieses Verbot, wird man mit betretenem Schweigen, Zurechtweisen, dem Abbruch der Kommunikation negativ sanktioniert. Sprachtabus unterliegen einem historischen Wandel: Früher, noch bis in die 50er und 60er Jahre, durfte man keine „Four-letter-words“ in der Öffentlichkeit benutzten; jetzt hört man sie allabendlich im Fernsehen. Selbstverständlich gibt es auch heute solche Tabus (und viele sind für den gesellschaftlichen Zusammenhalt notwendig): Bestimmte Ausdrücke werden durch Euphemismen umschrieben, es heißt „Seniorenresidenzen“ und nicht „Altenheime“. Benutzt man Wörter wie „Fräulein“ – heute als Diskriminierung unverheirateter Frauen verstanden – oder gar „Neger“, so führt dies als Tabuverstoß zu heftigen Reaktionen. Gewisse Themen werden beschwiegen bzw. lösen – sollte man sie in einer bestimmten inhaltlichen Richtung akzentuieren – Empörung aus (z. B.  zur Sprache gebrachte Probleme mit Migranten). Political correctness –  Blondinen Witze verstoßen dagegen! –  lässt sich als eine besondere Art von „Sprachtabus“ charakterisieren, aber davon soll hier nicht weiter die Rede sein.

Das Gedicht enthält keine expliziten Beispiele für Sprachtabus, verlangt vielmehr vom Leser, diese gleichsam e contrario zu ermitteln: Worüber er in diesen Versen redet, ist für den Sprecher – er kann hier mit Heinz Piontek gleichgesetzt werden –  mit solchen Tabus belegt (dennoch aber oder gerade deswegen spricht er davon!): Die Seele, das alte Sehnsuchtswort Ferne (deren zugeordnetes „Blau“ durch Hinweis auf die symbolische Überhöhung dieser Farbe beim Meister der Donauschule, Albrecht Altdorfer, verstärkt wird), das verschlissene Vertrauen, Freundschaft, Liebe und Zärtlichkeit, das Schöne, repräsentiert durch Honig, Apfel und Schwan. Durch Verben wie zu schaffen haben, zurückgreifen, Platz einräumen, ja sagen, „ruhig wählen“ (im Sinne von: deutlich benutzen), durch Feststellungen, dass die Wehlaute der Liebe nicht an die Groschenschreiber preisgegeben werden dürfen und man es auf eine Kraftprobe ankommen lassen müsse, soll deutlich gemacht werden, dass der Sprecher die von ihm ausgemachten (angeblichen!) Sprachtabus außer Acht lässt und er ihnen zum Trotz so spricht wie er spricht. Ermuntert fühlt er sich dabei durch die himmlischen Zeichen einer unbotmäßigen, sich um keinerlei Tabus scherenden Morgenröte; aus älteren Büchern von in pfirsichfarbenen Röcken Vorübergereister –  etwa bei Barthold Heinrich Brockes und dessen „Irdische(m) Vergnügen in Gott“? – will er sich seine Anregungen holen. Sei es wie es sei, das Gedicht wird von einem unangenehm verlautbarenden Duktus beherrscht.

Es muss in diesem Zusammenhang dann die entscheidende Frage gestellt werden, warum und mit welcher Berechtigung hier überhaupt von Sprachtabus geredet wird. War es Mitte der 50er Jahre ein Tabu, in Lyrik und Prosa, Wörter wie „Seele“ usw. zu benutzen und musste man sich fürchten, vom Schönen zu reden? Das sind leere Behauptungen Pionteks, für die jeder empirische Nachweis fehlt. Selbstverständlich erschienen damals (wie auch heute) Gedichte und Romane, die in einer (nach Piontek!) tabubelegten Sprache geschrieben waren. Piontek insinuiert, dass die von der linksliberalen oder auch linken Literaturkritik in (zugegeben!) oft hämischer und diffamierender Weise veröffentlichten Vorwürfe, seine Arbeiten wiesen keinerlei Zeitbezug auf und besäßen einen unpolitischen und durch und durch altmodischen Charakter, auf nichts anderes als auf „Mundtotmachen“ zielten. Dabei übersah er, dass ihm von kulturkonservativen, in durchaus einflussreichen Periodika veröffentlichenden Kritikern (Hohoff, Holthusen, Exner, um nur drei zu nennen) stets Beifall gezollt wurde. Wenn sich Piontek zunehmend an den Rand öffentlicher Aufmerksamkeit gedrängt sah, so konnte er dies nicht (oder gewiss nicht allein) den der Gruppe 47 nahe stehender Rezensenten anlasten. Der Umgang mit seinem Werk ist allerdings ein Paradebeispiel für literaturkritische Frontenbildung in der Bundesrepublik und damit für den Kampf um eine sehr kleinen Schicht von Lesern, aber nicht etwa, was für ein Tabu entscheidend gewesen wäre, der öffentlichen Meinung überhaupt.

Piontek fasst in „Sprachtabus“ seine bekannte, meist aber sehr viel differenzierter und abgeschwächter geäußerte Position (man vergleiche nur das hier auf dieser Webseite interpretierte „Am See“ ) plakativ zusammen: Ja, ich sage, / dass wir das Schöne nicht fürchten müssen. Niemals aber hatte er sich mit der durch die moderne Ästhetik initiierten Umwertung des Schönen auseinander gesetzt und vermittelt in diesem Gedicht nun eine naiv gegenstandsbezogene Ästhetik: Schönheit ist etwas, das den Objekten i. w. S. gleichsam anhaftet (dem Honig, dem Apfel, dem Schwan) und nicht etwa Ergebnis einer bestimmten Tätigkeit ästhetischer Urteilskraft. Baudelaires Feststellung „Aus dem Hässlichen kann der Dichter durch Hereinnahme des Banalen bei gleichzeitiger Deformation zum Bizarren Schönheit erwecken“, hat Piontek gewiss niemals abgewogen, auch nicht, dass „ein politisch Lied“ kein „garstig Lied“ sein muss. Unangenehm ist auch die auftrumpfende Selbstsicherheit, mit der das Gedicht konstatiert, „dass Umarmungen nicht geschmäht werden können / von schwerer Folter.“ Im Zyklus „Vergängliche Psalmen“ aus den frühen 50er Jahren hatte es noch geheißen: „“Verhöre um Mitternacht, Erschossene in hallenden Kellern - / das alles konnt ich vergessen. // Doch jetzt belagert es mich, murmelnd und tückisch... /“ In dem Gedicht „Sprachtabus“ räumt  Piontek solchen Nachdenklichkeiten keinerlei Platz mehr ein, er will „Botschaften“ vermitteln und hat sich dann wohl keine Rechenschaft darüber gegeben, dass dergleichen der Tod der Poesie sein kann.

Die letzten, nicht leicht zu verstehenden Zeilen Der Geist und die Braut sprechen: / Komm sind eine verkürzte Wiedergabe aus der „Offenbarung des Johannes“ (Neuen Testament). „ Ich, Jesus, habe meinen Engel gesandt, euch diese Dinge zu bezeugen in den Versammlungen ...Und der Geist und die Braut sagen: Komm! Und wer es hört, spreche: Komm! Und wen da dürstet, der komme; wer da will, nehme das Wasser des Lebens umsonst“ (22:17). Geist ist hier „Heiliger Geist“, aber wer ist die Braut, deren Schönheit bereits im Alten Testament („Hohes Lied Salomons“) Lob gepriesen wird? („Schön bist du, meine Freundin, / ja, du bist schön. / Zwei Tauben sind deine Augen. / Schön bist du, mein Geliebter, / verlockend. / Frisches Grün ist unser Lager, / Zedern sind die Balken unseres Hauses, / Zypressen die Wände.) Nach allegorischer Auslegung ist es die Kirche, die als „Braut Christi“ (und Christus als Bräutigam) gesehen wurde. Um des biblischen „Wortschatzes der Stammelnden und Toten“ willen möchte es der Sprecher auf eine Kraftprobe ankommen lassen und eben das preisen, was seiner Meinung nach mit Sprachtabus belegt ist. Pionteks Gedicht nimmt  spätestens hier den Charakter einer Verkündigung an. Ein früher (Pionteks Gedichten insgesamt sehr freundlich gegenüber stehender) Kritiker, der Lyriker und Essayist Christopher Middleton, hatte schon früh auf die Gefahr einer „Verbindung von abstrakter Rhetorik und Pathos“ hingewiesen, in die Pionteks Lyrik immer dann geriet, wenn sie religiöse Thematiken behandelte, und dass eben diese Verbindung „erkennbar Gift für Pionteks Sprache“ ist. Dem kann hier nichts hinzugefügt werden!

Anmerkung: Der Aufsatz Middletons findet sich in: Heinz Piontek: Ich höre mich tief in das Lautlose ein. Frühe Lyrik und Prosa. Herausgegeben von Anton Hirner und Hartwig Wiedow. Berlin / Schmalkalden 2011. S. 141 ff.