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Münchner Impressionen: Im Schleißheimer Schloßpark

Natur und Poesie verschmelzen bei Heinz Pionteks Schilderungen. Spazieren gehend lehrt der Autor das Sehen, Fühlen, Erleben. Landschaft wird synästhetisch aufgenommen, Vergangenheit wird lebendig. Der Leser nimmt teil auf dem Weg des Dichters.

"Von Münchens nördlicher Peripherie erreicht man Schloß Schleißheim in etwa zehn Autominuten. Also für mich liegt der Schloßpark gewissermaßen vor der Tür. Freilich, seine Nähe ist nur ein Grund unter anderen, weshalb ich den Park zu meinem liebsten Spaziergebiet erkläre. Ein weiterer Grund: Der Park ist nicht zu groß, noch überschaubar; das habe ich an solchen Grünanlagen gern. Aber was ich als besonders wohltuend empfinde, ist die ländliche Atmosphäre, die nicht an der übermannshohen Parkmauer haltmacht Bevor der Besucher zu den einfachen hölzernen Toren gelangt, streift er an einem aufgelassenen Kleinbahnhof vorbei, an großen Viehställen, Landarbeiterwohnungen, Gemüsegärten. Selbst mitten im Schloßpark, wenn ich die Ohren spitze, höre ich die Uhr der Dorfkirche schlagen oder ihr Glockengeläut Ja, ich habe den Eindruck, daß das Ländliche hier das aristokratisch Schöne zu seinem Vorteil ein wenig dämpft. Außerdem kommt für mich von den Kanälen, die das Grün durchziehen, noch ein Hauch Holland hinzu.
Das neue, immerhin schon dreihundertjährige Schloß (es gibt auch ein altes) ist mit seinen sieben Trakten und den beiden dazwischenliegenden Arkaden voller Steinfiguren dermaßen breit, daß es den Park nach Westen zu völlig abschirmt, Rechts und links von ihm befinden sich die Eingangstore. Selbst von hier hat der Besucher noch keinen Blick auf das, was ihn erwartet oder was er erwartet. Er muß erst um die Schloßecke biegen.
Kommt er zum erstenmal, sieht er sich überrascht einem weiten, lichten, zumeist auch luftigen Raum gegenüber, schätzungsweise 200 Meter im Quadrat, einem Raum, der an zwei Seiten von so schmalen Alleen eingefaßt ist, daß bloß Fußgänger, höchstens Reiter sie benutzen können.
Dieses Gartenparterre liegt seltsamerweise zwei bis drei Meter unter dem Parkniveau. (Ich werde gleich darauf zurückkommen.) Es hat seinen Charakter von französischer Schloßgartenkunst erhalten: Blumenbeete und -rabatten in schnörkelhafter Ornamentik, dazwischen Bassins, Kieswege, hohe Bleivasen (von den Göttern aus Stein sind leider nur einzelne Sockel übriggeblieben) - also ein barocker Lustgarten wie im Buch.
Nun kann man sich die Mittelachse des Parks denken, die weiter hinten von einer Art Schneise mit Wassergraben gebildet wird, an deren Ende das ehemalige Jagdschloß Lustheim steht: als kunstvolle Kulisse die Schneise vollkommen abriegelnd. Zwischen beiden Schlössern, genauer: zwischen Garten und luftiger Schneise befindet sich eine aus hellen Steinplatten errichtete Kaskade. Sie besitzt oben einen konkaven, etwas tiefer einen konvexen Rand, so daß sich das Wasser in zwei Bögen, durchsichtig, sonnendurchblitzt und leise donnernd, in unaufhörlichen Schwällen über den höheren, nachher über den tieferen Rand stürzt.
Da Schloß und Park sich auf brettebenem Land erheben, war die Anlage einer Kaskade nur möglich, indem man das Gartenparterre senkte, das heißt, es mußten ca. 160 000 Kubikmeter Erde fortbewegt werden. Und noch etwas: Schleißheim hat keine Bäche. Bis von der Isar her, auf der anderen Seite bis von der Würm holte man sich das notwendige Wasser durch Stichkanäle. Das System der Kanäle innerhalb des Schloßparks verlangte zudem geniale Ingenieursarbeit.

Nun das für mich Schönste: Direkt wird die Kaskade aus einem Wassergraben gespeist, der beträchtlich breit und schnurgerade immer weiter weg von ihr - nach Osten führt, fast bis an das kleine Schloß Lustheim heran. Parallel zu beiden Seiten des Grabens zieht sich ein Rasenstreifen hin, daneben ein Weg. Man kann auf Gras oder Kies herrlich spazieren und dabei die dunkelgrüne Spiegelung des Wassers betrachten, die von abschließenden Hecken herrührt und von den hinter ihnen hochragenden Eichen, Kiefern, Lärchen, Buchen, Linden. Der Graben wird nämlich von Baumgarten, richtiger: Boskettzonen flankiert
Jederzeit kann man vom Weg, dieser hellen Schneise, abbiegen, in den Schatten von Hecken und gestutzten Bäumen eintauchen und sich wie in einem grünen Labyrinth fühlen. Denn auch hier ist alles mit dem Zirkel entworfen und zu eigenartigen Ornamenten zusammengewachsen. Bei großer Hitze ist man völlig einsam, gut versteckt und genießt den in Düften schwimmenden Schatten.
Ich aber will mich heute nicht verstecken, sondern weiter am Wasser wandern. Vorher bin ich an weißlackierten Parkbänken von barocker Form vorbeigekommen. Doch auch Ausruhen kommt diesmal nicht in Frage, denn ich möchte bis zum Schloß Lustheim, das etwa vor zehn Jahren wiederaufgebaut wurde und nun eine der wertvollsten Porzellansammlungen beherbergt Kurz vor dem gelben und weißen Gebäude teilt sich der Graben und umfangt das kleine Schloß mit seinen blütenstaubbedeckten Wasserarmen. Lustheim liegt, nimmt man es genau, auf einer Insel.
Der Blick zurück muß weit schweifen, bis er am anderen Ende des Parks das neue Schloß, auch in den Farben von Gelb und Weiß, nun in seiner ganzen Prächtigkeit findet. Umgekehrt wieder, von der breiten Schloßterrasse aus, bildet Lustheim den Blickpunkt der Anlage.
Sagen wir Dank dem baufreudigen Kurfürsten Max Emanuel von Bayern sowie seinem Schloß- und Gartenarchitekten Enrico Zucalli, einem Graubündner, der sich dies alles (und mehr) einfallen ließ. Und danken wir Gott, daß es im Schleißheimer Park so leise zugeht, daß man plötzlich einem Reh mit Kitz gegenüberstehen kann, oder daß. aus dem Wassergraben ein uralter, richtig bemooster, gewaltiger Karpfen mehrmals an die Luft hüpft, dabei einen dicht am Wasser spazierenden Herrn begleitend, als wolle er ihm mit rundem Maul das Märchen seines Lebens erzählen.
Und worauf weise ich zum Schluß noch hin? Natürlich auf die unumgänglichen Herren Kollegen. Dieser wunderschöne, manchmal wirklich wie in Träumen liegende Park ist mit vollem Namen in die zeitgenössische Literatur eingegangen. So hat ihn Alfred Andersch, geborener Münchner, in seinem Buch „Die Kirschen der Freiheit" auf nur anderthalb Seiten derart intensiv beschworen, als hätte er es auf mindestens zehn getan. Ein Sommerbild."