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Station 13 Volkslied

"Volkslied“ - Interpretation

Heinz Piontek wohnte von 1955 an in Dillingen und zog 1961 in die bayerische Hauptstadt. Dort entstanden diese 1966 erstmals veröffentlichten Verse. Indem das Gedicht den Begriff „Donauübergang“ verwendet, wird eine ja eigentlich unproblematische Umzugsfahrt nach München gedanklich mit einer gefährlichen Überquerung des Flusses verknüpft, wie z. B. eine der amerikanischen Streitkräfte, die im April 1945 über die Dillinger Donaubrücke nach Süden vorstießen (s. Peter von Neubeck »Als die Amerikaner ‚Teufelskatzen‘ Dillingen erreichten«. In: DZ-Extra: Kriegsende, Donau-Zeitung, 22. April 2015, S. 38).

„Volkslied“ ist ein eigentümlicher Titel für ein Gedicht, das gerade nicht in der Form eines Volksliedes geschrieben ist. Die merkwürdige Wendung „es gehe wie es wöll“ verweist aber auf das alte schwäbische Volkslied »Schneiders Höllenfahrt«, Seine erste Strophe lautet: „Es wollt ein Schneider wandern / Am Montag in der Fruh, / Begegnet ihm der Teufel, / Hat weder Strumpf noch Schuh: / ‚He, he, du Schneidergesell, / Du musst mit mir in d’Höll, / Du musst uns Teufel kleiden, / Es gehe wie es wöll!“ Die Wendung „Du musst mit mir in d’Höll“ macht, zusammen mit „Donauübergang“ klar, dass Heinz Piontek im Weggang aus Dillingen, wo man doch in so „manchem schönen Eck“ sitzen konnte, durchaus Gefahren für sich erblickte. Das Gedicht lässt allerdings im Ungewissen, warum sein Autor Dillingen überhaupt verlässt. Erschien ihm sein Aufenthalt im Donauried zunehmend als Weltflucht („Schlaftrunken kam der helle Morgen an. / Wir gingen wie die Schneider durch den Klee“), als Rückzug in eine Art Idylle („und tauschten Noten ein um Küsse“), und suchte er nun eine größere Nähe zum „unerhörten Aufstand“ in der Welt?  Der „Donauübergang“ war dann ein ohne abwägende Bedachtnahme („blind“) eingegangenes Abenteuer, sich in die Gefahren eines „unerhörten Aufstands“ in der Welt zu begeben. Waren es die sich z. B. in den Schwabinger Krawallen (1962) am Horizont zeigenden (Studenten-)Unruhen, die heute vereinfacht mit „1968“ umschrieben werden und die für einige einer Kulturrevolution gleichkamen, in der das Unterste zuoberst gekehrt wurde?

Das Lied vom Schneider – man sollte es zum Verständnis des schwäbischen Volkslieds beachten – endet allerdings glücklich, der Schneider kann die Hölle wieder verlassen: „He, he, du Schneidergesell, / Pack dich nur aus der Höll, / Wir brauchen keine Kleider mehr, / Es geh halt, wie es wöll!“ Entging Heinz Piontek den Gefahren, die er in dem Gedicht ahnte? Seine Biografie zeigt, dass er, der sich als unpolitischer Schriftsteller sah, durch eine sich politisch verstehende Literaturkritik aber Wunden davontrug.

(Hartwig Wiedow)

S. dazu: Hartwig Wiedow: Heinz Piontek im Donauried: Nachkriegsheimat und Anfänge eines Schriftstellers. In: Jahrbuch des Historischen Vereins Dillingen a. d. Donau, 116./117. Jahrgang 2015/16, Dillingen 2017, S. 285.