Kurzinterpretation - Anja
Heinz Piontek
Anja
Unsere Liebe, Anja,
unsere Liebe unter dem Laubschirm,
den das Schwarzholz spannt -
Betrügerin du, die nach Erdbeeren geht
und auf zwei Fingern pfeift,
damit es Wenzel hört von ferne!
Ich erbettelte weißen Wein für dich,
Du tratst das Feuer aus.
Ich trug Steine zusammen,
fing an, vier Mauern zu ziehen.
Du hast an wilde Schwäne
unser Brot verschenkt.
Morgen werde ich
mit dem Fährmann verhandeln -
drüben ist, wie sie sagen, ein anderer Himmel
und alle Zärtlichkeit gerecht -:
Will ohne dich gehn Anja,
will spurlos in Öde und Klarheit hausen
und neue Hoffnung mir brechen von grünenden
Ästen im Fels.
Sieh mich nicht an!
O sieh mich an, dass ich bleibe!
Heinz Piontek: Werke in Sechs Bänden. Band 1. Früh im September. Die Gedichte. Gedichte aus fremden Sprachen. München 1982. S.80
Ein Gedicht über eine schwierige Liebe! Unter Heinz Pionteks früher Lyrik finden sich nur wenige Verse, die man als solche über Liebe bezeichnen kann. Die resignativ gefärbte, schwermütige „Brückenromanze“ soll erwähnt werden. Sie handelt von der Unwiederholbarkeit einer zu Ende gegangenen Liebesbeziehung: „Unter einer Brücke war / ihre Liebe – bittrer Aufruhr – / fern und nicht mehr wiederholbar“ („Die Rauchfahne“. Esslingen 1953. S. 19).
„Anja“ wurde zuerst in Pionteks dritten Lyrikband „Wassermarken“ (Esslingen 1957) veröffentlicht und leitete dort eine mit „Östlichen Romanzen“ überschriebene Folge von fünf Gedichten ein. In dreien dieser Romanzen –„Anja“, „Markttag“ und „Tochter des Schmieds“ – ist von der Liebe in den unterschiedlichen Erscheinungsweisen die Rede:
Eine östliche Wasser- und Gehölzlandschaft bildet den Hintergrund von „Anja“: Das „Schwarzholz“, eine nur zwei Meter hohe, breit ausladende Heckenpflanze, bildet „Laubschirme“, unter denen man lagern kann. Erdbeeren lassen sich suchen; wilde Schwäne leben auf den Wasserläufen. Auf einem dieser Flüsse gibt es die Möglichkeit, mit Hilfe eines „Fährmanns“ nach „drüben“ zu gelangen. Bildet dieser Fluss eine Grenze? Wahrscheinlich, denn das jenseitige Ufer liegt, wie es heißt, schon unter einen „andere(n) Himmel“. Auch die beiden Namen betonen das Östliche dieser Landschaft: „Anja“ ist eine slawische Koseform für Anna, Wenzel ein tschechischer (Václav) und auch in Polen (Wac?aw) verwendeter Vorname, der in der deutschsprachigen Grenzbevölkerung manchmal auch ethnophaulistisch gebraucht wurde. Landschaft und Völkergemisch deuten auf das oberschlesische Oder-Gebiet hin; das Gedicht wurde darum wohl auch in die Anthologie „Deutsche Gedichte über Polen“ (Frankfurt 1995) aufgenommen.
Ein nicht näher genannter Mann spricht von seiner großen Liebe zu Anja, beschuldigt sie aber im gleichen Augenblick, eine Betrügerin zu sein. Sie täusche nur vor, Erdbeeren zu suchen, pfiffe aber auf „zwei Fingern“ nach irgendeinem Wenzel. Er, der Mann, trage Steine zusammen und ziehe Mauern hoch; sie dagegen lösche das Feuer und füttere die „wilden Schwäne“ mit Brot, derweil er „weißen Wein“ (eine Kostbarkeit in dieser Gegend!) für sie erbettele. Er wolle sich darum am nächsten Tag schon über den Fluss zum jenseitigen Ufer aufmachen, um unter einem anderen Himmel, „wo alle Zärtlichkeit gerecht“ ist, neue Hoffnung zu finden, auch wenn er dort „spurlos in Öde und Klarheit hausen“ müsse. Er fordert darum Anja auf, ihre Blicke von ihm abzuwenden, gleichzeitig aber appelliert er in seiner leidenschaftlichen und schmerzlichen Liebe an sie, ihn anzuschauen, damit er bei ihr bleiben könne.
In einem Atemzug spricht der Mann also von seiner Absicht aufzubrechen und von seinem unbedingten Wunsch hier zu bleiben!
An der herausragenden Platzierung des Satzes in der letzten Zeile des Gedichts wie auch an der ihn hervorhebenden Interjektion aber ist erkennbar, dass sein Begehren, bei Anja zu bleiben, stärker ist als das Verlangen fortzugehen. Was dem Mann in der vorletzten Strophe als Möglichkeit vor Augen steht, sich eine „neue Hoffnung“ zu „brechen von grünenden / Ästen im Fels“, möchte er eben nicht „drüben“, sondern schon „hier“, zusammen mit Anja, erleben.
Durch Parallelität in der Ausdrucksweise wird dies auch sprachlich artikuliert: In der ersten Strophe heißt es „Liebe unter dem Laubschirm“, also unter einem grünen Dach; in der letzten ist erneut von „grünenden Ästen“ die Rede. Das Zusammentragen von Steinen und das Ziehen von „vier Wände(n)“ (zweite Strophe) stehen für Hausbau; in der dritten Strophe wird dann das Zeitwort „hausen“ verwendet. Das Abwenden des Mannes ist darum nichts anderes als eine inständige Bitte an Anja, ihm (und das heißt ihnen beiden!) diesen „neuen Himmel“ und ein „gerechte Zärtlichkeit“ schon hier zu ermöglichen.
Vergleicht man nun Wendungen wie „unsere Liebe unter dem Laubschirm“, „spurlos in Öde und Klarheit hausen“ usw. mit „Macht zwischen Zelten / einen Saal aus einer Fuhre / starker Fässer“ (“Markttag“) und „Winters trug sie die zierlichen Stiefel / sommers eine Fahne Kattun um die Hüften“ („Die Tochter des Schmieds“), so fällt in Wortwahl und Satzbau auf, dass bei „Anja“ die sonst Erzählgedichte oft kennzeichnende Umgangssprachlichkeit (Parlando) zu Gunsten einer gemessenen Sprache abgeschwächt wird. Alliterationen (Liebe / Laubschirm usw.) verstärken dabei den getragenen Tonfall, der in dieser Romanze zu vernehmen ist. Diesen sprachlichen und formalen Merkmalen wiederum entspricht (gegenüber den beiden zitierten Romanzen, in denen „Alltäglichkeiten“ eine wesentlich größere Rolle spielen) inhaltlich die für „Anja“ charakteristischen Raum- und Zeitenthobenheit.
Schaut man sich das Gedicht genau an, so fällt auf, dass von sehr einfachen, nahezu archaischen Dingen die Rede ist, von Brot und Wein, von Mauern und Steinen, von Öde und Klarheit, von grünenden Ästen. Ohne dass ein ausdrücklicher Hinweis gefunden werden kann, lassen sich in der entscheidenden dritten Strophe biblische Bilder assoziieren: „ein anderer Himmel“ erinnert entfernt an Jesaja 65, 17 („Denn siehe, ich will einen neuen Himmel und eine neue Erde schaffen...“), in den „grünenden Äste im Fels“ ist ein Widerhall der Psalmen zu hören. Die auf diese Weise von nahezu allen konkreten raum-zeitlichen Bedingtheiten und Umständen gelöste „Welt“ der Liebenden wird so auf Zeichenhaftes reduziert und weist dadurch, wie oben bereits erwähnt, Zeit und Raum übersteigende Merkmale auf. Die Verse versuchen, einen Moment von Verheißung zu beschwören, in welchem der auf die Einheit von Gehen und Bleiben, von Anziehung und Abstoßung gerichtete Telos des Gedichts zu Tage tritt.
Pionteks Lyrik, das mag man kritisch sehen oder auch nicht, lässt schon in einigen frühen Arbeiten, genannt sollen hier nur das sehr bekannt gewordene Erzählgedicht „Die Verstreuten“ (in dem ebenfalls vom „Frieden finden auf Felsen“ die Rede ist), eine deutliche Tendenz zum Ahistorischen, wenn nicht Mythisierenden erkennen, die auch in dieser „östliche Romanze“ ausgemacht werden kann. Dem entspricht in dieser Romanze eine vor bzw. jenseits aller sozial konstruierter Geschlechtermerkmale liegende, für den heutigen Leser auch nicht unproblematische Ausdeutung des Männlichen (Bauen!) und des Weiblichen (Verschwenden!). Die Polarität der Liebenden wird dabei in der zweiten Strophe formal durch den ständigen Wechsel von „Ich“ und „Du“ betont.
Hartwig Wiedow