Kurzinterpretation - Totenlitanei für von der Vring
Heinz Piontek
Totenlitanei für von der Vring
Hinter den Wasserfarben verregneter Gärten
hinter Kavaliershäusern Schuluhren Kanälen
hinter dem Heu und Stroh von Blumen
hinter Sommer und Herbst
hinter dem Wort Flandern
hinter den Lippen einer Schwäbin
hinter blauem Nebel wie der Sage vom weißen
treibenden Haaren und den ans Ufer gezogenen Körper
hinter Starrsinn Wahn Liebe
hinter dem voll bezahlten Preis
hinter einem Wall an der Weser
werden dich auferwecken
die silberkehligen Hörner deiner Gedichte
Heinz Piontek: Werke in Sechs Bänden. Band 1. Früh im September. Die Gedichte. Gedichte aus fremden Sprachen. München 1982. S.172
© Anton Hirner, Lauingen
Die Litanei ist ein vor allem in der katholischen Kirche verbreitetes Wechselgebet mit meditativem Charakter. Ein Vorbeter artikuliert Bitten, die von der Gemeinde mit einem gleichbleibenden Ruf beantwortet werden. Als Beispiel sollen zwei Zeilen aus der „Litanei für alle Menschen“ stehen:
„Für alle Kranken und Leidenden - Bitten wir dich!
Für alle Betrübten und Bedrückten - Bitten wir dich!“
Heinz Piontek bezeichnet sein satzzeichenloses Gedicht auf den Lyriker, Erzähler und Maler / Zeichner Georg von der Vring (1889 - 1968) als „Totenlitanei“ und in der Tat ähnelt es, obwohl es von einem Menschen spricht und auch an ihn gerichtet ist, in gewissem Sinne einer Litanei:
Gleichbleibend wird in jeder Strophe mehrfach als Zeilenbeginn die Präposition „hinter“ mit einer dann folgenden Aufzählung von Substantiven aufgerufen, wobei jedoch durch den gelegentlichen Gebrauch des Artikels oder ein Hinzufügen von Adjektiven jede Eintönigkeit vermieden wird. Darüber hinaus verhindern Unregelmäßigkeiten in der Länge und Rhythmik der Zeilen, dass sich die Litaneien häufig eigene Monotonie einstellt. Das zum Verständnis der Verse entscheidende, aber erst in der vorletzten Zeile platzierte Verbum „auferwecken“ macht die Bedeutung der hier in erster Linie eine zeitliche Bedeutung tragenden Präposition klar: Erst wenn er die „Wasserfarben verregneter Gärten“, das „Wort Flandern“, „Starrsinn Wahn Liebe“ usw. hinter sich gelassen hat, wird der unmittelbar am Weserdeich („hinter einem Wall an der Weser“) in Kirchhammelswarden, einem Ortsteil seiner Geburtsstadt Brake, Bestattete vom Tod durch die „silberkehligen Hörner“ seiner eigenen Gedichte auferweckt werden!
Von diesen Versen sagte Piontek in seiner im Auftrag der Bayerischen Akademie der Schönen Künste gehaltenen Grabrede (8. März 1968), sie seien „die poetischten, die in den letzten Jahren bei uns in Deutschland entstanden sind, musikalisch wie Arien, leicht und rein in die Luft gesungen, gezaubert, unerklärlich kunstvoll und natürlich zugleich“
(„Zur Wirkungsgeschichte eines schreibenden Einzelgängers“. Herausgegeben von Ludwig Steinherr. Zweite Auflage. München 2000. S. 450)
Piontek war von der Vring freundschaftlich verbunden und hat sich während seiner eigenen schriftstellerischen Laufbahn sehr für ihn eingesetzt: Essayistische Arbeiten, Rezensionen, Gedichtinterpretationen, der Text zu einem Fernsehfilm („Die Lieder des Georg von der Vring“) und die Wiederherausgabe der Romane „Soldat Suhren“ und „Spur im Hafen“ in seiner Münchner Edition zeugen von einem großen Engagement für den im Alter vergessenen Dichter, der Piontek zum Nachlassverwalter seiner Werke bestimmte. Der Freitod des seit 1951 in München Lebenden –der „ans Ufer gezogenen Körper“ war nach langer Suche von Pionieren aus der Isar geborgen worden – hat ihn bewegt: „Dass er mit achtundsiebzig Jahren das Ende seiner Kraft und Geduld erfahren musste, erschüttert uns“ heißt es in der Grabrede.
1971 veröffentlichte Piontek dann in seinem Gedichtband „Tot oder lebendig“ (Hamburg) die „Totenlitanei“.
Wie nähert man sich einem Gedicht, das aus einfachen und unmittelbar verständlichen Wörtern wie „Heu“, „Stroh“, „Starrsinn“ „Wahn, „Liebe“ besteht oder aus solchen, die wie „Flandern“ und „ans Ufer gezogenen Körper“ in ihrer Bedeutung sofort klar sind? Sollte man in ihnen eine bloße Aufzählung schwer oder gar nicht zu enträtselnder, einer Enthüllung aber auch weiter nicht bedürftiger Gegenstände, Zustände und auch Menschen („Lippen einer Schwäbin“) sehen, die in von der Vrings Leben eine Rolle gespielt haben, aber nun hinter ihm liegen? Oder sollte man den nicht immer einfachen Weg gehen, sie auf biographische und werkgeschichtliche Bedeutung hin zu befragen?
Versucht man dies, so wird man feststellen, dass es Piontek, ohne auftrumpfenden Gestus und ohne die Verse zu überfrachten, gelungen ist, seine großen Kenntnisse über Leben und Werk von der Vrings in der „Totenlitanei“ gleichsam „einzuschmelzen“.
Einige Beispiele mögen dies zeigen: „Schuluhren“ erinnert daran, dass von der Vring (der das Lehrerseminar in Oldenburg besucht hatte) von 1919 bis 1928 als Zeichenlehrer in Jever beschäftigt war. Das so genaue Bild von den „Wasserfarben verregneter Gärten“ verweist auf das Regen-Garten-Motiv, das in der Lyrik von der Vrings, sei's mit, sei's ohne genaue Ortsangaben, sehr häufig vorkommt.
So heißt es in dem Gedicht „Im Laubgang“:
„Am liebsten hab ich gelebt / Im Schleier verregneter Gärten... // Bald schallen im Regen Gesänge / der alten Gefährten ums Haus.“
Die in der ersten Strophe genannten Kavaliershäuser und Kanäle beziehen sich auf die Spaziergänge von der Vrings im Nymphenburger Schlosspark. Über eines der leerstehenden Kavalierhäuser schrieb er ein Gedicht, das sehr viel über die Befindlichkeiten des schon alten Mannes aussagt:
„Dass ich drin könnte wohnen, / Hab ich nie geglaubt; / Es würde von keinem Fürsten / Einem wie mir erlaubt. // ...Auf mich wird er nicht verfallen; / Noch kommt hinzu, er ist / Kein Kenner von meinerlei Dingen / Abandonnés et tristes.“
Das „Wort Flandern“ nimmt in der Lyrik von der Vrings, der an den Ypernschlachten teilnehmen musste und dort viele seiner Freunde verlor, einen herausragenden Platz ein. Dieser Todesregion gelten einige seiner ergreifendsten Gedichte: „Waldlager bei Billy“, „Cape de Bonne-Espérance“, von Piontek für die Frankfurter Anthologie interpretiert, und vor allem „Die Leuchttürme“, das Piontek in seine Anthologie „Neue deutsche Erzählgedichte“ (Stuttgart 1964) aufnahm.
Mit „Lippen einer Schwäbin“ wird in der Totenlitanei die Liebe des Dichters zu seiner aus dem Remstal stammenden dritten Ehefrau Wilma Musper aufgerufen; für sie sind von der Vrings „Verse an Minette“ (1947) bestimmt.
Aber, wie bereits gesagt, man muss sich bei der „Totenlitanei“ nicht zwangsläufig in solche Einzelheiten hineinbegeben. Sie ist als Hommage an Georg von der Vring gleichsam aus sich selbst heraus verständlich, weil sie konsequenterweise zu dem Bild führt, dass der tote Dichter „hinter“ einem Leben, für das er einen vollen Preis zahlen musste, in seinen eigenen Versen auferweckt wird, also durch sie überlebt. Von der „dauerhaften und widerstandsfähigen“ Natur der Lyrik von der Vrings hatte Piontek bereits in seiner Grabrede gesprochen. Die „Totenlitanei“ kann dann als überzeugende poetische Variation dieses Themas angesehen werden.
H. Wiedow