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Kurzinterpretation - Unverhofft

Heinz Piontek

Unverhofft

Ich wiederhols:
 
Zum Laufen hilft nicht schnell sein,                                              
beim Kämpfen nicht stark sein,
in der Kunst nicht Blut und Wasser schwitzen,
im Goldrausch auch kein fieberhaftes Schürfen.
 
Drum gedulde dich, sieh zu, bis du
die Zeit auf deiner Seite hast.
 
Denn ist es an der Zeit,
genügt ihr ein Augenblick;
 
dann überlässt sie dir,
ohne nach deinen Anstrengungen zu fragen,   
und auch dir, Schläfer bis in den Tag,
das volle blendende Glück.
 
Was sonst.

Heinz Piontek: Helldunkel, Gedichte. Freiburg 1987. S. 73 © Anton Hirner, Lauingen

Das „volle blendende Glück“! Dich für einen Moment deiner Sehkraft beraubend, weil durch das Übermaß an Freude du so geblendet wirst, als wenn du in ein zu starkes Licht schautest und deine Augen vor Glücksschmerz schließen müsstest? Aber was ist denn Glück überhaupt? Eine rein subjektive Empfindung oder nicht doch, wie es uns die antiken Philosophen lehrten, ein Leben in der Übereinstimmung mit vorgegebenen Maßstäben, ganz im Sinne eines honeste vivere (Upian) zum Beispiel? Kannst du dir das Glück mit Fleiß, Ausdauer und harter Mühe schmieden oder fällt es dir jenseits bloßer Selbstanstrengung, dem „pursuit of happiness“, wie es in der United States Declaration of Independence so schön heißt, als dauerhaftes Gefühl einfach zu? Der Sprecher des Gedichts weiß jedenfalls: Nicht bloße Schnelligkeit führt beim Laufen zum Ziel; nicht schiere Stärke lässt dich siegen (die Geschichte von David und Goliath lehrt es), ein Kunstwerk glückt nicht durch schweißtreibende Schufterei am Schreibtisch oder im Atelier; den Riesen-Nugget, den du in deinem „Goldrausch“ suchst, findest du nicht durch Schürfen bis zum Umfallen! Wodurch aber dann?

Nur durch die Hilfe eines mächtigen Bundesgenossen: Geduld musst du aufbringen, bis die Zeit auf „deiner Seite“ ist!
Eine merkwürdige Aussage, denn Zeit ist doch  nach G. W. Leibniz' „Die metaphysischen Anfänge der Mathematik“ (1704) nichts anderes als „die Ordnung des nicht zugleich Existierenden [und] somit die allgemeine Ordnung der Veränderungen, in der (...) nicht auf eine bestimmte Art der Veränderungen gesehen wird.“ Wie aber kannst du eine rein gedankliche Konstruktion – und anderes ist Zeit ja nicht und ihr Fließen ein bloßes Phänomen des Bewusstseins – zum Helfer haben?

Das Gedicht sieht aber die Zeit eben nicht als „Chronos“ im Sinne der Antike, als ein Fortschreiten der Gegenwart, von der Vergangenheit kommend und zur Zukunft hinführend. Als was aber dann? Schlüssel sind die Zeilen „Denn ist es an der Zeit, / genügt ihr ein Augenblick; dann überlässt sie dir ...“ „Augenblick“ meint hier nicht eine unspezifische Zeitspanne, sondern den einmaligen, nicht wiederkommenden günstigen Zeitpunkt, an dem das Füllhorn über dich ausgeschüttet wird, der  „Sieg“ dir zu Teil wird. „Kairos“ nannten die alten Griechen diesen rechten, Zeitpunkt, den du nicht „erarbeiten“ kannst, sondern der dir geschenkt wird. Auch die biblischen Texte kennen Kairos als einen von Gott gegebenen Zeitpunkt. Wie sagt es der Prediger Salomon? „Ein jegliches hat seine Zeit, und alles Vorhaben unter dem Himmel hat seine Stunde ...pflanzen hat seine Zeit, ausreißen, was gepflanzt ist, hat seine Zeit.“ (Buch Kohelet III, 3).

Der barocke Lyriker Andreas Gryphius wusste es („ … Der Augenblick ist mein, und nehm ich den in acht, / ...“) und auch Friedrich von Schiller in seinem frühen Gedicht „Resignation“: „Was man von der Minute ausgeschlagen, / Gibt keine Ewigkeit zurück.“ Ist der Kairos da, sind also die Würfel gefallen, wirst du nicht nach „deinen Anstrengungen“ gefragt, das Glück fällt dir vielmehr zu, und zwar auch dann, wenn für dich nicht die „Morgenstunde Gold im Munde hat“, sondern du ein Langschläfer bist. Ganz unerwartet tritt es plötzlich ein, du hast es gar nicht erhofft, vielleicht sogar für ausgeschlossen gehalten: „Unverhofft“ ist es auf einmal da, „was sonst“ als das „volle blendende Glück“! Und du hast nicht nur Glück gehabt, sondern du bist jetzt durch und durch glücklich!

„Unverhofft“ ist ein spätes Gedicht Heinz Pionteks. Es eröffnet den Teil „Entziffern – Aneignen“ des 1987 erschienenen Bands „Helldunkel“ (Freiburg u. a.). Hans Egon Holthusen sprach in seiner Rezension vom „Beschwörungszauber“ dieser Gedichte und in der Tat redet „Unverhofft“ in  inständiger Weise davon, sich zu gedulden, nichts über das Knie zu brechen. Welchen Wert Piontek dem Gedicht beigemessen hat, sieht man daran, dass er es an das Ende seines Auswahlbandes „Indianersommer“ (Würzburg 1990) platziert hat.

Das Gedicht zeichnet sich durch eine durchsichtige, nichts verdunkelnde Sprache und vor allem durch seinen klaren Aufbau aus: Vier anschauliche, ohne jede Schwierigkeit verständliche Beispiele oder auch Bilder (Z. 2 bis Z. 5) führen auf die im Zentrum stehende zugespitzte Aussage hin (Z. 6 – Z. 9), dass nicht die fließende „lange“ Zeit das „volle blendende Glück“ bringt, sondern die kurze „verdichtete“ Zeit es schenkt, der jäh eintretende rechte Augenblick. Der Auftakt „Ich wiederhols“ macht dabei deutlich, dass der Sprecher sich in einem Traditionszusammenhang weiß, altes Wissen also gleichsam weiter gibt. Auffallend ist die kunstvolle Rhythmik der Zeilen, der ihnen innewohnende Satzakzent. Liest man das Gedicht laut – Gedichte sollten laut gelesen werden! – und löst man sich dabei von der Silbenbetonung, so fällt auf, dass in den vier Beispielen der Satzakzent auf dem Wort liegt, das besonders hervorgehoben werden soll: „Laufen“, „Kämpfen“, „Kunst“ und „Goldrausch“ in den Zeilen vier bis fünf, mit ihnen korrespondiert in Z. 6 der starke Betonung auf „geduldet“ und in Z. 13 „das volle blendende Glück“. Ebenso kunstvoll ist die starke Akzentuierung der für das Gedicht so entscheidenden Wörter „Zeit“ und „Augenblick“ in den Zeilen sieben, acht und neun.

Das Gedicht darf nicht missverstanden werden. Es empfiehlt niemandem, die Hände in den Schoß zu legen, oder, wie es in einer volkstümlichen Redewendung heißt, „den lieben Gott einen guten Mann sein zu lassen“. Auch dem Dichter und bildendem Künstler wird  nicht etwa nahegelegt, alles auf die Karte der „Eingebung“ zu setzen. Persönlich war Piontek ein harter Arbeiter am Gedicht, verschiedene Fassungen seiner Gedichte verraten es.

Programmatisch hat er sich zur Frage von Inspiration vs. Erarbeitung in einem Bericht über die Entstehung seines vielleicht bekanntesten Erzählgedichts „Die Verstreuten“ geäußert. Er schreibt dort: „Der Dichter ein Perlentaucher...wenn  wir  in  diesem  Bilde  bleiben,  werden wir uns kaum zu schönen Spekulationen versteigen. Bei jedem Manne, der mit angehaltenem Atem und offenen Augen unter dem Spiegel fischt, entscheidet zuletzt nicht die Mühsal, sondern der Fund. Der fällt allerdings keinem Trägen in den Schoß. Hinwiederum  garantiert ihm die Ausdauer zwar einen achtbaren Erfolg, aber weder Eifer noch Fleiß noch List  noch Kühnheit reichen aus, den köstlichen Schatz zu heben. Das Fischen kann er erlernen, das Glück nicht...“ („Von der lyrischen Praxis“, in: Heinz Piontek: Ich höre mich tief in das Lautlose in: Frühe Lyrik und Prosa. Herausgegeben von Anton Hirner und Hartwig Wiedow. Berlin / Schmalkalden 2011. S. 33 ff.)

Ähnliches  wird in „Unverhofft“ wiederholt, auf andere menschliche Aktivitäten ausgeweitet und um eine die schlichte Tatsächlichkeit überspannende Einsicht in das Verhältnis von Zeit und Augenblick, von Chronos und Kairos vertieft. Das Gedicht erteilt darum auch nicht etwa einen Rat, sondern vermittelt eine Einsicht.