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Kurzinterpretation - Die Landmesser

Heinz Piontek
Die Landmesser

 
Nun stehn die Stäbe, eingerammt im Grund
und weiß und rot, mit spitzen Eisentüllen.
Der Männer Augen sind vom Spähen wund
und rauh die Kehlen vom Befehlebrüllen.
 
Der eine hält die Karte ausgebreitet,
indes ein anderer die Optik dreht:
durchs Fadenkreuz die Ziegenweide gleitet
und dann ein Helfer, der zum Fluchtpunkt geht.
 
Ein dritter muss zum Rechenschieber greifen,
der vierte treibt die Hilfsarbeiter an.
Die trotten müßig, rauchen Stummelpfeifen
und fluchen den Beamten dann und wann.
 
Und alle tragen Filze, schwarze Loden,
an ihren Stiefeln haftet Tau und Staub.
Sie senken tief das Steinmal in den Boden
und schmecken an den Zähnen warmes Laub.
 
Und rechnen gut. Die Pläne sind genau.
Die Messgeräte richten sich verlässlich.
Und weitet sich die Ferne zart ins Blau:
Den Zirkel her! Hier ist nichts unermesslich.

Heinz Piontek: Ich höre mich tief in das Lautlose in. Frühe Lyrik und Prosa. Herausgegeben von Anton Hirner und Hartwig Wiedow. Berlin / Schmalkalden 2011. S. 49

Es gab viel zu vermessen in den 50er Jahren, der Zeit des Wiederaufbaus und des bald beginnenden Wirtschaftswunders: Grundstücke wurden parzelliert, neues Bauland aufgeschlossen, die „Ziegenweide“ (II) zum Beispiel, früher vielleicht eine Allmende, aber dergleichen passte nun nicht mehr in die neue Wirtschaftsordnung... Im Verlauf von Flurstücks- oder Grundstücksgrenzen mussten Grenzpunkte (das Gedicht spricht in IV von „Steinmal“) gesetzt werden. Man bediente sich damals – noch weit vor Einsatz des Global Positioning System (GPS) – des Othogonalverfahrens, d. h. die Punkte wurden mit einem Winkelprisma („Optik“, II), einer Kreuzscheibe („Fadenkreuz“, II), mit Messlatten und Fluchtstäben (I) vermessen. Zum sogenannten Vorwärtseinschneiden, eine zur Entfernungsmessung zweier unzugänglicher Punkte unerlässlichen Berechnung, verwendeten die Geometer als analoges Rechengerät den auf logarithmischer Basis beruhenden Rechenschieber (III), denn Taschenrechner standen damals noch nicht zur Verfügung. Aber auch mit ihnen ließ sich „gut rechnen“ (V)!

Heinz Piontek schrieb „Die Landmesser“ um 1950 und nahm sie in seinen ersten Gedichtband „Die Furt“ (Esslingen 1951) auf. Die Verse beruhen auf sehr genauen Beobachtungen des damals noch jungen Lyrikers: Ein „Trupp“, wie man so sagte, von vier möglicherweise sämtlich verbeamteten, zu Anweisungen berechtigten Vermessungsingenieuren (I, III) – die Vermessungs- bzw. Katasterämter nehmen hoheitliche Aufgaben wahr– , begleitet von einigen Hilfskräften, macht sich in an einem Herbsttag (es liegt schon Laub auf dem Boden und die Männer sind warm und regengeschützt gekleidet, IV) an die Arbeit.

Piontek gelingt es dabei, nahezu sämtlich benutzten vermessungstechnische Gerätschaften unter genauer Bezeichnung in seinem Gedicht „unterzubringen“, und der Leser kann nur staunen, wie selbst der rohrförmige Teil eines Geräts, in dem ein Stiel hineingesteckt werden kann, exakt mit dem wirklich nicht zum erweiterten Wortschatz gehörigen Begriff „Tülle“ belegt wird. (Der Reim „Eisentüllen“ – „Befehlebrüllen“ stellt dann in der deutschen Literatur ein Unikat dar!)

„Die Landmesser“ – eine kleine Sozialstudie (die aber soziale Fragen nicht ins Spiel bringt), vor allem aber eine Präzionsetüde, in der ein Stück Welt detailgerecht abgebildet wird? Keinesfalls nur (obwohl sie als solche ja bereits ihren Wert hätten), denn ganz am Ende wird in dem Gedicht mit „Und weitet sich die Ferne zart ins Blau“ (V) ein anderer Ton angeschlagen. Gemeint wird erst einmal die an herbstlichen Morgenden beobachtbare blasse Blaufärbung des Himmels sein; gleichzeitig aber ist „blaue Ferne“ seit der Romantik Chiffre für eine das Hier und Jetzt überschreitende Sehnsucht.

Für die zu einem anderen und tieferen Verständnis des Gedichts entscheidenden letzten Zeilen liegen zwei Lesarten vor, deren Vergleich die Intentionen der Verse besser offen zu legen ermöglicht. In der ersten Buchveröffentlichung stand noch „dem Zirkel bleibt kein Abstand unermesslich!“, will heißen: jede Entfernung lässt sich ausmessen! Erst in „Gesammelte Gedichte“ (Hamburg 1975) findet sich dann die in späteren Drucken beibehaltene Schlusszeile „Den Zirkel her! Hier ist nichts unermesslich“. Der Akzent liegt nun auf den Landvermessern selbst: Sie wehren jetzt die „Versuchung“, die von der blauen Ferne ausgehen mag, mit der deutlichen Selbstaufforderung – man beachte das Ausrufungszeichen – ab, den Messzirkel hervorzuholen und zu benutzen. Bei der Vermessung der Welt kann es für sie keine Grenzen geben und damit eben auch keine „blaue Ferne“. Das Gedicht aber gebraucht das Wort „unermesslich“ und nicht etwa „unmessbar“. Das Gedicht aber gebraucht das Wort „unermesslich“ und nicht etwa „unmessbar“. Es bringt mit dem Begriff der Unermesslichkeit, der Endlosigkeit des Raums und  der Zeit, zuletzt etwas ins Spiel, das sich eben nicht vermessen lässt und so gleichsam das Selbstverständnis der Landmesser übersteigt!


„Die Landmesser“ ist eins von drei Gedichten des jungen Pionteks, die man  als figürliche Studien über im Freien arbeitende Menschen bezeichnen könnte: Vermessungsleute, Straßenwärter („Das Mahl der Straßenwärter“) und „Der Bauarbeiter“ (später von Piontek verworfene Verse). Gemeinsam ist allen dreien ihre Form: Es handelt sich durchgehend um jambische, also auftaktige Verse mit Kreuzreimen und Kadenzwechsel, herkömmliche Versformen also, wie sie seit den Volksliedern und den Gedichten der Klassik und Romantik ständig eingesetzt wurden. Bei genauem Hinsehen merkt man aber einen entscheidenden Unterschied: Das Gedicht verwendet fünfhebige Jamben, die zwar als Blankvers im Drama weit verbreitet, in vierzeiligen gereimten Strophen aber nur äußerst selten anzutreffen sind. Durch Fünfhebigkeit verliert der jambische Vers Frische und Lebhaftigkeit; sein dynamischen Charakter, der im drei- oder auch noch im vierhebigen Jamben deutlich zu Tage tritt, geht so durch den langsameren und getrageneren Rhythmus verloren. Den genannten Gedichten wird auf diese Weise trotz der verwendeten Strophenform alles „Sangbare“ genommen, dafür aber das in ihnen enthaltene erzählende Element deutlich verstärkt. Später hat Piontek dann bei seinen Erzählgedichten auf rhythmische Gleichförmigkeit und genaue Versstruktur mehr und mehr verzichtet. Insofern kann bei „Die Landmesser“ von einer „Übergangsform“ gesprochen werden, die auf Grund ihrer Monotonie gegenüber den freirhythmischen Erzählgedichten nicht ganz befriedigen kann und von Piontek dann auch nicht mehr verwendet wurde.

Der in den 1950er und 1960er Jahren einflussreiche Kritiker und Essayist Hans Egon Holthusen hat in seinem Aufsatz „Fünf junge Lyriker“ (in: „Merkur, Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken“, 8/1954) die ersten beiden Lyrikbänden Heinz Pionteks sehr positiv und fördernd rezensiert. Bei „Die Landmesser“ und einigen anderen Gedichten sprach er aber von „Gesellenstücken und Gebrauchsgedichten, die kein Geheimnis haben und bei aller perfekter Ausgesagtheit das eigentlich Poetische vermissen lassen.“ Nun kann man in dem Gedicht „Die Landmesser“ sicherlich (und oft vielleicht zu deutlich) die Absicht des jungen Lyrikers erkennen, möglichst viele und zutreffende technische Details in die für sie eigentlich gar nicht einmal geeignete Gedichtform einzuarbeiten und insofern ein „Gesellenstück“ anzufertigen. Gegen Holthusen lässt sich jedoch einwenden, dass er seiner kritischen Stellungnahme einen sehr eng eingegrenzten Begriff des Lyrischen (wie des Schönen überhaupt) zu Grunde gelegt hat,  dadurch charakterisiert, dass bei einem Gedicht, wie er ausführt, sich die „Seele des Lesers … in die Freiheit sinnerschließender Einbildungskraft erheben“ müsse und „das Gefühl nicht am Boden schleifen“ dürfe. Es handelt sich um eine traditioneller Ästhetik geschuldete Vorentscheidung, mit der sich der Kritiker den Blick dann auf Verse versperrte, die, von ihm vorschnell als „Gebrauchslyrik“ abqualifiziert, in der deutschen Literatur von H. Heine bis E. Kästner ihren Platz haben. Piontek selbst, das sei hier erwähnt, hat sich später der ästhetischen Position Holthusens stark genähert.