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Kurzinterpretation - Am See

Heinz Piontek

Am See

Wer, auf die hölzerne
Brüstung gestützt,

über unser Gehölz
von leichten Apfelbäumen
hinwegblickt

und behauptet,
Segel seien auf dunkler Erde
das Schönste,

gemahnt mich
an das Übergewicht der Dinge
und der Empfindung.

Einst fragte auch ich
nicht weiter:
besessen von der Welle am Bug,

den Wassermeilen,
flitzend
sich netzenden Schwalben -

Wodurch aber bleiben wir beieinander?
Wie das Rohe ertragen und wie
widerstehn dem Verrat?

Sicher aussichtslos,
doch wie lange schon
kämpf ich hier

um einen glücklichen Ausgang
für Gedanken?

Heinz Piontek: Werke in Sechs Bänden. Band 1. Früh im September. Die Gedichte. Gedichte aus fremden Sprachen. München 1982. S. 306 © Anton Hirner, Lauingen

Heinz Piontek hat in diesem Gedicht „versteckt“ ein (leicht verändertes) Zitat eingearbeitet. In der dritten Strophe heißt es: „ Segel seien auf dunkler Erde / das Schönste“.

Eine Ode der griechischen Lyrikerin Sappho (um 600 v. Chr.) beginnt mit:

„Ο? μ?ν ?ππ?ων στρ?τον, ο? δ? π?σδων, / ο? δ? ν?ων φα?σ’ ?π? γ?ν μ?λαιναν / ?μμεναι κ?λλιστον, ?γ? δ? κ?ν’ ?τ-/ τω τις ?ραται.“

Emil Staiger übersetzte diesen ersten Vers dieser nur als Fragment überlieferten Ode, geschrieben im sapphischen Versmaß, mit:

„Reiterscharen sagen die einen, Fußvolk / andere. Schiffe seien das Schönste auf der / dunklen Erde. Ich aber sagte, was die / Liebe begehrt, ist's“ (Sappho. Griechisch und deutsch herausgegeben und übertragen von Emil Staiger. Zürich 1957).

Das Zitat ist kein schmückendes Beiwerk oder ein Auftrumpfen mit Bildungsgut, es hat vielmehr, wie später versucht wird zu zeigen, in dem Gedicht Pionteks möglicherweise eine in die Tiefe weisende Bedeutung.

„Was mich nicht loslässt“ heißt der 1981 in München erschienene Gedichtband Pionteks, in dessen ersten, mit „Bedenkzeit“ überschriebenen Teil „Am See“ zu finden ist. Es handelt sich um eine Folge von oft schwer verständlichen, weil verschlüsselten und mit Andeutungen spielenden Gedichten.

„Am See“ spricht vom Schönen. Was aber ist für Piontek das Schöne oder auch Schönheit? Eine Idee im Sinne Platons, die mit der des Wahren und Guten verbunden ist, so dass auch die Kunst der Erkenntnis der Wahrheit dient? Diskursiv hat sich Piontek hierzu nicht geäußert, dergleichen Erörterungen waren ohnehin nicht seine Stärke.

Im Gedicht „Mit einer Kranichfeder“ (1962) bezeichnet er die Schönheit als „Partisanin“ und gibt auch dem V. Band seiner Werke, Schriften zur Literatur, zu Person und Werk umfassend, den Titel „Schönheit: Partisanin“ (1983). Eine kaum nachvollziehbare Wendung, denn gegen wen muss sich die Schönheit zur Wehr setzen oder wen sollte sie bekämpfen? Um diese Frage zu beantworten, müsste in den essayistischen und kritischen Arbeiten Pionteks systematisch nachgegangen werden.

Zum Verständnis des oben abgedruckten Gedichtes ist eine solche Untersuchung aber nicht nötig, denn das Schöne wird in den Versen deutlich genannt. Ein Blick von einem erhöhten, mit einer Brüstung gesicherten Platz über Apfelbäume hinweg auf einen See erinnert den Sprecher – hier, im Gegensatz zu der sonst in Gedicht gewählten Ich-Form, in der fiktiven Rolle eines Betrachters – daran, dass für ihn einst helle „Segel auf der dunklen Erde das Schönste“ gewesen seien. Nun aber führt er sich eindringlich vor Augen  – so lässt sich das von ihm verwendete Verbum „gemahnen“ verstehen –, dass er einst geradezu von der Schönheit „besessen“ gewesen sei, in ihrer Gestalt als Bugwellen der Schiffe, im Blick auf den See von einem am Ufer entlang führenden Weg  („Wassermeile“) und von den über diesen See sehr niedrig hin fliegenden Schwalben, die durch das Aufschlagen ihrer Flügel Wasser verspritzten (die nahezu onomapoetisch eingesetzten Verben „flitzen“ und „netzen“ heben dabei diesen Eindruck noch besonders heraus). Im Schönen oder vielleicht besser: in seinem Bild verbinden sich also Reales („Dinge“), hier eine Wasserlandschaft, und „Empfindungen“, also eine innere Erfahrung, die man durch und mit der Wahrnehmung des Realen macht, zu einer Einheit. Die Empfindung selbst wird in dem Gedicht durch das einen sehr hohen Grad des Erfüllt- oder Berauschtseins ausdrückende Verbum „besessen“ ausgedrückt (im Deutsch des frühen 19. Jahrhunderts wäre hier noch „trunken von“ gebraucht worden!).

Der Sprecher aber redet, sich über Schönheit äußernd, nicht mehr davon „dass wir das Schöne nicht fürchten müssen: // den Honig, den Apfel, / den Schwan“, wie es im Gedicht „Sprachtabus“ von Piontek heißt, vielmehr durchaus selbstkritisch vom „Übergewicht“ der Dinge und Empfindungen, oder, wie man sagen könnte, von der Prävalenz, die das Schöne früher in seinen Wahrnehmungen und Denken („Gedanken“) besessen hat.

Wichtig aber sind für ihn heute drei entscheidende Fragen:

  • Auf welche Art und auf welchem Wege können wir als Menschen „beieinander bleiben“?
  • Wie lässt sich das Rohe (das Brutale) in dieser Welt „ertragen“?
  • Was können wir dem „Verrat“, gemeint ist Vertrauensbruch und Treulosigkeit, entgegensetzen?

Aus dem Verbum „weiter fragen“ (im Sinne von „tiefer“ lotend) geht hervor, dass das Schöne eben keine Antwort auf diese Fragen gibt, Schönheit also mit dem Wahren und Guten nicht in einer Einheit verbunden ist. Resigniert stellt der Sprecher am Schluss des Gedichts dann fest, dass er, über eine Antwort nachdenkend, schon lange einen aussichtslosen Kampf geführt hat.

Die Geltung beanspruchende Aussage (Behauptung) „Segel seien auf dunkler Erde / das Schönste“ wird im Gedicht durch eine die bisherigen „Besessenheit“ vom Schönen überwindende kritische Selbstbefragung zurückgewiesen. Ergebnis dieser Selbstbefragung ist dann die Erkenntnis, dass sich die drei entscheiden Fragen eben nicht im Medium des Schönen beantworten lassen.

Die Interpretation des Gedichts sollte an dieser Feststellung aber nicht ihr Genüge gefunden haben. Möglicherweise gibt die Sappho-Ode, die gleich zu Anfang in dem kurzen Zitat  aufgerufen wird, „Am See“ eine zusätzliche und tiefer liegende Ausdrucksdimension. Diese Ode läuft, darüber sollte man sich klar sein, gleichsam „unter“ dem Gedicht als Subtext mit. Auf den ersten Blick stellt sie eine Huldigung an eine Geliebte dar, von der es in der letzten Strophe heißt  „Lieber ihr bestrickendes Schreiten säh ich / und das helle Leuchten auf ihrem Antlitz / als der Lyder Wagen und in der Rüstung / kämpfendes Fußvolk. // “

Diese auch die Liebes-  und Schönheitsgöttin Aphrodite aufrufende Ode feiert die Liebe, nicht nur ihre Macht, sondern vor allem ihre Schönheit. Vermittelt Pionteks Gedicht die Botschaft, eine Antwort auf die drei existentiellen Fragen, der „glückliche Ausgang“ des gedanklichen Kampfes, ließe sich durch die Liebe finden? Unmittelbar ausgesprochen ist es nicht, aber wenn es in der ersten Strophe der Ode heißt  „Ich aber sagte, was die / Liebe begehrt, ist's“ so könnte mit dem verkürzte Zitat gleichsam auf einem Umweg doch auf etwas hingewiesen sein, was Piontek in seinem Gedicht nicht direkt zur Rede kommen lassen konnte oder wollte.

Hartwig Wiedow