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Kurzinterpretation und produktionsorientierte Erschließung – „Kondensstreifen“

Heinz Piontek

Kondensstreifen

Diese pfeilgraden Striche
über den halben Himmel.
 
Als flöge da einer
auf der Luftlinie
zwischen seinen Augen
und seinem Ziel.
 
Nicht die winzigste Korrektur.
Weder Schwanken noch Zaudern -
 
Endlich!
 
Doch diese Spuren
von Unbeirrbarkeit
 
(als hörten wir die Sehne
noch schwirren,)
 
vom idealen Erreichen des Ziels
täuschen.
 
Fragt die Piloten!

Heinz Piontek: Werke in Sechs Bänden. Band 1. Früh im September. Die Gedichte. Gedichte aus fremden Sprachen. München 1982. S. 329 © Anton Hirner, Lauingen

Erste Buchveröffentlichung: H. P. „Was uns nicht loslässt“ , München 1981

Pionteks 1981 erstmals erschienenes Gedicht ist auf den ersten Blick einfach; es stellen sich aber bei genauerem Hinsehen einige Fragen. Diese sollen in einer produktionsorientierten Herangehensweise gestellt werden. Damit werden erste Schritte zu einer (schriftlich zu fixierenden) Deutung gemacht, die durchaus kontrovers ausfallen kann.

Lehrer wie Schüler sollen hier eine Anregung erhalten, sich kritisch und kontrovers mit dem Gedicht auseinander zu setzen.

Aufgaben:

  • Nimm zunächst aus deiner (Schüler-) Sicht die Aufforderung bzw. den Ratschlag Pionteks an und verfasse eine Anfrage an (einen) Piloten. Darin sollen deine Fragen zum Gedicht, dein Unverständnis bei bestimmten Passagen zum Ausdruck kommen.
  • Vergleicht die Anfragen und klärt, wo Gemeinsamkeiten und Unterschiede bei den Fragen nach der Lektüre vorhanden sind.
  • Verfasse dann ein Antwortschreiben eines Piloten an dich!

Die nachfolgenden Vorschläge sind allenfalls als Anregung gedacht. Wir würden uns über weitere Kommentare und Meinungen freuen. Über unser Kontaktformular können Beiträge abgegeben werden.

Beispiel einer Anfrage

Mail an den Fliegerhorst -burg:

Hallo Piloten des Eurofighter Typhoon,

Heinz Piontek hat uns in seinem Gedicht „Kondensstreifen“ aufgefordert, euch einfach zu fragen, wenn wir etwas in dem Gedicht nicht verstanden haben. Und das wollen wir hiermit auch tun. Denn wenn wir es schon als Hausaufgabe für den Unterricht interpretieren müssen, so sollte alles richtig werden. Also, was Kondensstreifen sind, das haben wir natürlich im Physikunterricht gelernt. Sie entstehen als menschengemachte Wolken, wenn Eure ruß- und wasserdampfhaltigen Triebwerksabgase auf frostige Luft treffen und meist sind sie schnur- oder wie es im Gedicht heißt „pfeilgrade“. Was aber ist gemeint mit „halben Himmel“, dem „idealen Erreichen des Ziels“ und wieso „hörten wir die Sehne / noch schwirren“? Könnt ihr uns diese Fragen beantworten? Überhaupt, das ganze Gedicht macht uns Schwierigkeiten! Jede Hilfe ist also willkommen.

Danke und Grüße!
Grundkurs Deutsch, Gymnasium -ingen

Antwort auf eine Anfrage

Mail-Antwort nach -ingen aus -burg:

Liebe Schülerinnen und Schüler,

meine Kameraden hier in -burg haben mir Euren Brief gegeben, weil sie glauben, ich verstünde von Gedichten etwas mehr als sie und oft ein Lyrikband in meinem Zimmer liegt. Um die Fragen zu beantworten, muss ich Eure Geduld allerdings strapazieren und vielleicht etwas weiter ausholen. Ich will euch aber vorab ehrlich sagen: Auch ich habe Schwierigkeiten mit diesem Gedicht. Aber dann macht es ja auch gerade Spaß, sich damit zu beschäftigen!

Euch wird aufgefallen sein, dass in dem Gedicht das älteste menschliche Fluginstrument, der Pfeil nämlich, eine herausragende Rolle spielt. Die Kondensstreifen sind „pfeilgerade Striche“; sie „fliegen“ wie auf einer (gedachten) Linie zwischen Auge und Ziel; man hört darum, natürlich assoziativ, auch das eigentümlich schwirrende Geräusch zurück schnellender Bogensehnen. Piontek setzt also das überschallschnelle Düsenflugzeug mit dem von einem Bogen abgeschossenen Pfeil, einer sehr alten und wirkungsvollen Jagd - und Fernwaffe, nahezu gleich. Aber was haben diese beiden Entwicklungsstufen der aviatischen Technik, um es einmal sehr gebildet auszudrücken, mit einander zu tun? Die beiden Fluginstrumente völlig unterschiedlicher Technik müssen irgendetwas Gemeinsames aufweisen, denn sonst wäre eine Art Gleichsetzung unverständlich, wenn nicht unsinnig. Auf den ersten Blick, so mag es scheinen, die „Spuren von Unbeirrbarkeit“ in ihren jeweiligen Bahnen oder Routen, die Zielstrebigkeit, mit ihnen „pfeilgrade“ ins Schwarze zu treffen! Dies aber, folgt man dem Gedicht, lässt sich so nicht sagen! Die wahrgenommenen „Spuren“ täuschen das exakte Erreichen eines Ziels, das Ideal des Bogenschützens wie des Piloten nur vor, sie sind bloß scheinbarer Natur. Ursachen für eine dann nicht mehr korrigierbare Abweichung können die Wetterverhältnisse, ein jäher Windstoß sein. Aber auch eine winzige, nicht mehr zu berichtigende falsche Visierung – die alten mit Pfeil und Bogen bewaffneten Jäger und Kämpfer werden, wenn sie es überlebten, am Lagerfeuer darüber berichtet haben –,  schon der kleinste technischer oder Material-Fehler, von dem grade wir Piloten ein Lied singen können, kommen in Frage. Gewiss aber lassen auch tiefer liegende, mit der Unzulänglichkeit von Mensch und Menschenwerk zusammenhängende Gründe das Ideal eines hundertprozentigen Zielerreichungsgrads, wie man in unserem schrecklichen Papierdeutsch so sagt, verfehlen, obwohl es doch für den Betrachter so aussieht, als wenn die Flugbahn keiner Korrektur bedürfe.

Nun bin ich etwas ins Abstrakte geraten, aber ich glaube, zwei Eurer konkreten Fragen, die nach dem „idealen Erreichen des Ziels“ und welche Bedeutung im Gesamtzusammenhang des Gedichts die Aussage „hörten wir die Sehne / noch schwirren“ besitzt, konnte ich doch in etwa auch konkret beantworten. Bleibt die nach dem „halben Himmel“. Ja, dies klingt zwar etwas seltsam, aber dahinter verbirgt sich nicht etwa das aus der Antike überlieferte Bild einer Himmelssphäre, sondern die Vorstellung einer fiktiven, beliebig dünn anzunehmende Kugelschale mit unendlich großem Durchmesser, die geozentrisch die Erde oder topozentrisch den Beobachter umgibt. Der Horizont ist dann ein Großkreis, der diese „Himmelskugel“ in zwei gleiche Hälften teilt. Man sieht also nur den „halben Himmel. Verstanden? Wenn nicht, fragt die Lehrer!

Viel Erfolg bei Eurer Hausaufgabe, aber bitte kein „Copy and Paste“! (Ihr wisst, da ist schon einmal ein oberster Chef von uns drüber gestolpert.)

gez.
Oberst N. N. Kommodore des Taktische Luftwaffengeschwaders XX, -burg


Stellungnahme eines Literaturwissenschaftlers

Der Herausgeber –wie er in seiner Studierstube an diese beiden Mails gelangt ist, darüber soll hier besser nicht gesprochen werden! – möchte noch einiges zur Interpretation des Gedichts beifügen:

„Kondensstreifen“ lässt sich in zwei Teile gliedern. Die Zeilen 1 – 9 treffen eine positive Aussage. Sie gipfelt in dem Ausruf „Endlich!“, soll heißen: keinerlei (Kurs-)Korrektur ist nötig. In den Zeilen 10 – 16 wird dieses emphatische Urteil dann zurückgenommen, als Täuschung entlarvt.

Der Kommodore ist berufsbedingt ein Mann nüchterner Argumentation und setzt darum in seinen Erklärungen notwendigerweise auch sachliche Akzente. Pionteks Gedicht ermöglicht aber, ja  verlangt vielleicht sogar noch andere Hervorhebungen:

Von N. N. wird stark die Gleichzeitigkeit der optischen („Kondensstreifen) und der akustischen Signale (das Schwirren der Bogensehne) betont, aus dieser zeitlichen Simultaneität aber dann doch etwas voreilig auf ihre gleichrangige“ Bedeutung im Gedicht geschlossen. Man sollte jedoch  stärker akzentuieren, dass gegenüber der visuellen Wahrnehmung der Kondensstreifen die auditive des Bogenschießens im Gefüge des Gedichts eine eher akzidentielle Bedeutung besitzt: Die Einklammerung und vor allem die Konjunktion „als“ (im Sinne von „als wenn“) spricht für eine solche Lesart! Das „ideale Erreichen des Ziels“ – Schlüsselbegriffe des Gedichts! – müsste ebenfalls stärker gewichtet, was hier heißt: aus der „Umgebung“ der aviatischen Beispiele gleichsam entfernt werden. „Täuschen“ (Z. 15) die „Spuren von Unbeirrbarkeit“ (Z. 10 f.), so bedeutet dies doch nichts anderes, als dass der Mensch zuletzt und gerade auch dort, wo er sich wähnt, stets in Irrbarkeiten lebt. Piontek war ein guter Kenner der deutschen Barockdichtung. Andreas Gryphius hat 1658 ein Sonett „Überschrift an dem Tempel der Sterblichkeit“ geschrieben; das erste Quartett lautet: „Ihr irrt, indem ihr lebt; die ganz verschränkte Bahn / Lässt keinen richtig gehn. Dies, was ihr wünscht zu finden, / Ist Irrtum; Irrtum ist’s, der euch den Sinn kann binden. / Was euer Herz ansteckt, ist nur ein falscher Wahn.“ In Pionteks Gedicht korrespondieren die nach „Endlich!“ folgenden Zeilen, welche dann in „täuschen“ ihren betonten Abschluss finden, sehr deutlich mit Gryphius' „die ganz verschränkte Bahn / Lässt keinen richtig gehn“! Eine Entsprechung natürlich nicht in Form, Sprache und Metaphorik, sondern in der Vanitas-Motivik eines „falschen Wahns“, hier sich in der mangelnden Selbstvergewisserung zeigend, dass auch Pfeile und Düsenflugzeuge zuletzt „verschränkte Bahnen“ haben.

Bleibt die von N. N. wohl aus Bescheidenheit nicht beantwortete Frage, warum bei „täuschen“ eigentlich die Piloten gehört werden sollen. Weil sie berufsmäßig im besonderen Maße mit den Gefahren, die sich bei kleinsten Abweichungen im Kurs aus dem Nicht-Erreichen des „idealen“ Ziels zu tun haben, umgehen müssen und darum den besonderen Schutz des Himmels benötigen , von wem immer man dort sich auch einen solchen Beistand erhoffen darf? Das wäre eine zugegebenermaßen sehr einfache (zu einfache?) Erklärung.

Noch ein letzter Hinweis: Es gibt in der deutschen Literatur ein mit „Kondensstreif“ überschriebenes Gedicht, in dem es heißt „Ein Kondenspfeil zielt, wie um zu stechen, / Auf der Wolken Horizontgetümmel“ (Die Gedichte. Ebenhausen 1989. S. 474). Kannte Piontek diese ebenfalls das Bild des Pfeils verwendende Verse seines Freundes Georg von der Vring? Das ist anzunehmen und wäre erneut ein Beweis dafür, dass Dichtung entscheidende Anregungen sehr häufig von Vorausgegangenem erhält.

Hartwig Wiedow