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Selbstinterpretation "Ich, Anton Pawlowitsch"

Weniger Interpretation, mehr Bekenntnis, fast schon Verteidigung. Poesie und Reflexion verschmelzen, künstlerischer Auftrag und Selbstvergewisserung, ja Rechtfertigung seines Künstlerdaseins und seines künstlerischen Auftrags.

Heinz Piontek sieht sich in der Tradition des großen russischen Erzählers und Dramatikers Anton Tschechow und äußert sich zu seinem Rollengedicht „Ich, Anton Pawlowitsch“.

Dass ein Autor nicht immer der beste und alleingültige Interpret seines Werks sein muss, ist Allgemeinplatz. In den vorliegenden Aussagen Pionteks zu seinem Gedicht geht es denn auch nicht um eine formal exakte, inhaltlich stringente Interpretation im germanistischen Sinne.

Piontek versucht in die Diskussion jener Zeit einzugreifen, indem er die Rolle des Schriftsteller und Künstlers aus seiner Sicht zu bestimmen versucht. Fast klingt dies schon wie eine Abrechnung mit all denen, die ihm, Piontek, seine angeblich unpolitisch konservative Haltung vorhielten und unterstellten.

ICH, ANTON PAWLOWITSCH

simuliere Gesundheit,
putze meinen Zwicker,
beobachte die Unkurierbaren.

Als Einziger meiner Gilde
sah ich das Weiße im Auge von Deportierten,
notierte Schreie, Knüppelwunden,
die Wärmequelle des Mondes
in den Nächten auf Sachalin.

Gott stärke mein Gedächtnis,
denn schreibe ich nicht schon wieder
von sich langweilenden Mädchen,
verwöhnten Gaunern, grünen und
grauen Dummköpfen

und habe die Stirn,
demnächst auch noch über
ein Feld voll Kirschbäume zu schreiben?

Diese Namenslisten, Hinweise
auf Landgüter, die ich
ans Theater sende.

Die Wahrheit
darf nicht auffallen,
ich mache große Pausen
zwischen den Worten.

So verdiene ich schwitzend
mit durchgefallenen Stücken.

Wenn mich die Alten loben,
dann mangels Besserem,
die Jungen verhöhnen meine weißen
Handschuhe, sie wollen
Blut sehen.

Schon höre ich sie
rund um das
ausgehobene Loch:

Och, wäre er nicht so
unentschieden gewesen!

Als hätte ich nicht
von Anfang an
gegen die Lüge protestiert.

Heinz Piontek zu seinem Rollengedicht

Die ersten ausländischen Autoren, zu denen ich mich besonders hingezogen fühlte, waren die großen russischen Schriftsteller des 19. Jahrhunderts. Vielleicht hängt es damit zusammen, daß ich aus dem Osten Deutschlands, aus Schlesien, stamme. Mit zwanzig verschwand ich gleichsam ganze Tage in den Romanen Dostojewskis. Mit dreißig schrieb ich einen längeren Essay über den bei uns nach wie vor unterschätzten Nikolai Lesskow. In Leo Tolstoi sehe ich noch immer den bedeutendsten Erzähler der Neuzeit. Verhältnismäßig spät bin ich auf Anton Pawlowitsch Tschechow (geboren 1860, gestorben 1904) aufmerksam geworden. Er ist der Jüngste, also Letzte in dieser Reihe weltberühmter Schriftsteller, zu der wir noch Puschkin, Gogol, Lermontow, Turgenjew und Gontscharow hinzuzahlen müssen. Die Frage nach "dem Größten" ist in der Literatur eigentlich unerlaubt, denn wir verfügen über keine absoluten, wissenschaftlich objektiven Maßstäbe. Wenn ich jedoch sagen soll, wer von ihnen mir am nächsten steht, wen wieder und wieder zu lesen ich nicht müde werde, brauche ich nicht lange zu überlegen. Ja, Tschechow hat die Richtung meines Denkens und Arbeitens wesentlich mitbestimmt; ganz schlicht: Von allen mir bekannten Autoren gehört er zu den vier oder fünf, die mir die liebsten sind.

Das Gedicht "Ich, Anton Pawlowitsch", das ich 1968 oder '69 schrieb, ist von seiner Form her ein Erzählgedicht, speziell ein Rollengedicht. Ich nehme mir die Freiheit heraus, sozusagen in der Rolle Tschechows aufzutreten, oder - umgekehrt ausgedrückt - ich leihe ihm meine Stimme, damit er noch einmal über sich und für sich sprechen kann, meine eigene Sache unauffällig mit einbeziehend. In den Jahren um 1968 wurden wir westdeutschen Autoren von Kritik und Publikum häufig insGebet genommen. Die Gretchenfrage lautete damals: Wie hältst du es mit der Politik? Oder: Wie steht es um dein Engagement? Mit meinem Tschechow-Gedicht versuchte ich, darauf zu antworten.
Antworten auf solche Fragen können ein Gedicht ruinieren: dann nämlich, wenn sich der Schreibende derart provozieren läßt, daß er dem ideologischen Denken auf den Leim geht. Wir haben es erlebt, wie eine beträchtliche Zahl Jener damals angepriesenen Protestgedichte mit der Zeit immer mehr an Bedeutung verlor. Lyriker ließen sich auf Tagesfragen ein, die inzwischen überholt sind. Statt Verse zu bauen, gaben sie gedichtähnliche Stellungnahmen ab oder klopften klassenkämpferische Sprüche im Flattersatz. Als die einzig 'Zeitgemäßen' wurden sie von den Trendmachern entsprechend honoriert. Heute, nur zehn Jahre später, sind viele dieser stramm engagierten Gedichte nur noch Makulatur.
Die Zeit, in der Anton Tschechow lebte, konfrontierte den Dichter mit ähnlichen Fragen und Problemen. Weitblickend, wie er war, ging er auf sie nicht ein. Dabei war er einer der ganz Wenigen unter den Autoren seiner Epoche, die ihre staatsbürgerliche Mitverantwortung sehr ernst nahmen, während so manche seiner Kollegen über das gesellschaftliche Engagement nur redeten oder schrieben. Tschechow, schon früh lungenkrank, wagte sich dennoch auf eine kaum vorstellbar strapaziöse Reise quer durch Sibirien bis ans östliche Ende des Reiches, um sich auf der Sträflingsinsel Sachalin von den Zuständen, unter denen die Verurteilten lebten, als Augenzeuge ein Bild zu machen. Seine sehr kritischen Beobachtungen legte er in einem umfangreichen Werk nieder, das für die Menschen auf Sachalin nicht folgenlos blieb.
Als er sich später den Kauf eines Gutes leisten konnte, sorgte er nicht nur für seine eigenen Bauern, sondern für das gesamte Dorf. Er ließ eine Schule bauen, Garten anlegen, Wälder pflanzen, all das finanzierte er aus der eigenen Tasche. Da er als Arzt ausgebildet war, behandelte er - trotz seiner immensen Arbeitsleistungen am Schreibtisch - weiterhin Kranke und Gebrechliche, zumeist kostenlos.
Wie gesagt, als Dichter von Theaterstücken lehnte er es ab, in seinen Dialogen Partei zu ergreifen für die eine oder andere
politische Richtung. Doch beherzt stellte er sich den umfassenderen, zutiefst menschlichen, den stets gültigen und nicht ein für allemal zu lösenden Fragen. Seine Stücke spielen auf Landgütern, unter wohlhabenden, ebenso auch dem Bankrott entgegensehenden oder ökonomisch schwer angeschlagenen Menschen. Sie langweilen sich beinahe alle; es ist die Krankheit ihrer Zeit. Aber ob gescheit oder beschränkt, ernsthaft oder leichtfertig, Tschechows Gestalten kommen mit dem Leben selten zurecht. Sie möchten es ändern, fast allen schwebt ein wahrhaftigeres Leben vor. Um der Schwerkraft ihrer Gewohnheiten, Trägheiten und Neurosen entgegenzuwirken, bringen sie nicht genügend Energie und Ausdauer auf. Durch Tschechows dramatisches Werk wie durch sein noch umfangreicheres erzählendes zieht sich das gleiche Sehnen, leise, innig, fast schwermütig: eine Sehnsucht nach Wahrheit, die den Menschen so weit erleuchtet, daß er sich von seinen Zwängen zu befreien vermag.
Tschechow war ein erfolgreicher Schriftsteller. Dennoch hatte auch er, gerade am Theater, Niederlagen hinzunehmen. Er blieb in den Krisen standhaft. Er war als Künstler von übergroßer Bescheidenheit, intellektueller Lauterkeit, in literarischen Fragen unbestechlich. Seine Selbstkritik hatte schon fast etwas Pathologisches; in Gesprächen und Briefen machte er seine Arbeiten häufig herunter, bagatellisierte sie; im Widerspruch zu seinem Kunstverstand, einfach aus nicht zu unterdrückender Güte, bezeichnete er zweit- und drittklassige Kollegen als die Besseren. Wie man in den Wald hineinruft, so schallt es für gewöhnlich heraus. Von Rezensenten und dem Publikum wurde er zwar geschätzt, doch "mangels Besserem"; sie machten sich seine Vorbehalte zu eigen. Die revolutionäre Jugend hielt ihn für einen „Unentschiedenen“. Ein einziges Mal, in einem Brief, bricht es aus ihm hervor:
„ Ja, habe ich denn nicht von Anfang an gegen die Lüge protestiert!"
Während der Diskussion 1968 bestärkte mich dieser Satz in meiner Auffassung ganz außerordentlich. Es kann nicht die Aufgabe der Dichtung sein, eine gerechtere Methode der Verteilung des Sozialprodukts zu propagieren, für diese Klasse oder jene Staatsform sich ins Mittel zu legen. Vielmehr muß es ihr darum gehen, wenn schon nicht die Wahrheit, so wenigstens den Irrtum zu ergründen - als Annäherung an die Wahrheit. Mit anderen Worten: Sie muß die Unwahrheit aufdecken, vor allem im zwischenmenschlichen Bereich. Anton Tschechow und seine Proteste gegen die Lüge erscheinen mir noch heute mehr als nur ein Gedicht wert.
(1979)