Zur Poetologie des Erzählgedichts
Im Vorwort zu seiner Anthologie „Neue Deutsche Erzählgedichte“ stellt Piontek Überlegungen zur Gattungsbezeichnung „Erzählgedicht“ an – ein Terminus, der von ihm geschaffen und inhaltlich präzisiert wurde.
Folgt man zunächst der goetheschen Definition der Ballade als „Ur-Ei“ der Dichtung, vereint dieses doch Lyrisches, Episches und Dramatisches, so scheint das, was Piontek unter „Erzählgedicht“ versteht, nicht so weit von dieser Definition entfernt zu sein.
Und in seinem Vorwort, gleichsam einer Art Poetologie, stellt er diesen Gattungstyp durchaus in die (verloren geglaubte) Tradition der Balladendichtung, eine Tradition, die Piontek auch bei Dichtern der Jahrhundertwende (vom 19. zum 20. Jhd.), dem Beginn der Moderne, sieht.
„[D]er Niedergang der Balladendichtung um die Jahrhundertwende betraf nur bestimmte zu Tode strapazierte Sujets und Techniken. (…) Einige der jungen, revolutionär gesinnten Poeten [begannen] den alten Kanon zu verwerfen und nach neuen Ausdrucksmöglichkeiten zu tasten. (…) Am eindrucksvollsten trat der junge Brecht hervor. Ihn halte ich für den eigentlichen Erneuerer der Ballade, die wir fortan Erzählgedicht nennen wollen.“
Erzählgedichte also nichts anderes als eine moderne Form der traditionellen Ballade? Mitnichten! Das Erzählgedicht erscheint Piontek als Experimentierfeld poetischer Versuche, auf dem zugleich eine bestimmte Welthaltung erkennbar ist.
„Der Bruch mit der Konvention der Ballade bedeutet ein schier unersättliches Aufnehmen und Verarbeiten verschiedener literarischer – nicht bloß lyrischer – Praktiken. Ernüchterung ist Besinnung auf die Prosa des Lebens. Hier im Erzählgedicht bezieht man sich nun wortwörtlich auf sie; von der Prosa kommt man zu folgenreichen poetischen Ergebnissen.“
Piontek sieht die lyrische Grundstruktur der Balladendichtung episch und musikalisch verändert, wie er an verschiedenen, in seiner Anthologie enthaltenen Gedichten nachweist; vor allem an Brecht, dem er damit einen wesentlichen Beitrag zu einer Erneuerung der Ballade zuschreibt.
„Daß Bert Brecht das epische Theater konstruierte, ist bekannt. Daß er parallel dazu eine epische Lyrik schuf, hat uns, soweit ich sehe, noch niemand klargemacht. (…) Es ist sein Verdienst, daß er durch den Rückgriff auf den Bänkelsang, aber auch durch seine Vorliebe für den zeitgemäßen Song das balladenhafte Gedicht aus seiner Versteinerung erlöste…“
Grundsätzlich sieht Piontek aber bei den jüngeren Autoren den Hang zum „Ungereimten“ zum „Parlando“. Strukturelle Merkmale moderner Epik werden auch beim Erzählgedicht verwendet:
„Vielfach tritt an die Stelle des „Ich“ ein prosaisch unauffälliges „Er“, (…) eine anonyme Figur löst den Helden ab, ein Mann ohne Eigenschaften.“
Trotzdem aber bleibt das Erzählgedicht noch Lyrik; lyrische Elemente in Klang und Form bleiben erhalten. Und nicht zuletzt sieht Piontek das „Phantastische“, das Unverhoffte als Merkmal dieser Gattung.
„Beinahe in jedem unserer Gedichte ließe sich ein stark phantasiebestimmter Zug nachweisen. (…) Selbst in ganz realistische Texte bricht plötzlich das Phantastische ein.“
In seiner Rezension zu der von Piontek herausgegebenen Anthologie setzt sich Richard Exner (Die Zeit) mit Pionteks Definition und der Zusammenstellung der Gedichte auseinander und bietet so einen kritischen literaturwissenschaftlichen Blick auf Pionteks Definition.
Alle Zitate aus „Erzählgedichte“; in: Piontek, Heinz: Werke in sechs Bänden. Bd. 5. Schönheit Partisanin, S. 155ff)
Anregungen zur Weiterarbeit bietet der Dateianhang.
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