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Zur Theorie und Praxis der Kurzgeschichte

In seinen Ansichten über die deutsche Kurzgeschichte legt Piontek gleichsam eine Poetologie der Gattung vor, einer Gattung, die sich in Deutschland besonders nach dem Krieg außerordentlicher Beliebtheit erfreute – bei Lesern wie bei Autoren.

Piontek präsentiert zugleich einen literaturgeschichtlichen Abriss dieser epischen Kurzform, charakterisiert Autoren wie Werke. Ausgehend von den amerikanischen Vorbildern dient ihm Hemingways „Alter Mann an der Brücke“ als Gattungsmuster schlechthin. Gleichwohl befreien sich die jungen deutschen Autoren von ihren amerikanischen Vorbildern, finden zu eigenständigen Formen und Themen.

Die folgenden Ausführungen fassen die wesentlichen Charakteristika der Gattung zusammen; weisen diese an Hemingways Text nach:

Graphik in Prosa

Ansichten über die deutsche Kurgeschichte (1957)

" (...) Zu den beiden Kleinformen der Erzählung (gemeint sind Anekdote und Kalendergeschichte), auf die wir hinwiesen, hat sich in den letzten Jahrzehnten eine dritte gesellt: die Kurzgeschichte. Die Bezeichnung ist ziemlich vage und unergiebig. In Amerika, wo ihre Ursprünge liegen, führt sie denselben Namen. Wer die Inauguratoren der Shortstory ermitteln will, muß sich bis zu Bret Harte und Jack London zurückbegeben. Etwas später nahm sich der hochbegabte Stephan Crane, der bei uns bisher kaum zur Kenntnis genommen wurde, der Kurzgeschichte an. Aber erst die »Verlorene Generation« verschaffte ihr Weltgeltung. Beinahe jeder der amerikanischen Erzähler, die heute in aller Munde sind, hat sie aufgegriffen und an ihrer Entwicklung und Vervollkommnung mitgearbeitet. Begnügen wir uns mit der Aufzählung einiger Namen: Sherwood Anderson, Gertrude Stein, Ernest Hemingway, Francis Scott Fitzgerald, John Dos Passos, Thomas Wolfe, William Faulkner.
Zweifellos ist Hemingway von allen Vätern und Forderern der Shortstory der gewichtigste. In seinen Erzählungen tritt die neue Form am reinsten und eindrucksvollsten in Erscheinung. Ein Text des Dichters mag dies dartun. Die Geschichte »Alter Mann an der Brücke« verfaßte Hemingway während des Spanienkrieges im Jahre 1938. Dieser Krieg ist auch der Stoff des Prosastückes. Worum geht es? Die ersten zehn Zeilen entwerfen die Situation: Ein Fluß (der Ebro), eine Pontonbrücke, zurückflutende Truppenteile der Rotspanier, Flüchtlinge, schwankende Maultierkarren. Ein alter Mann, der sich mit letzter Kraft über die Brücke geschleppt hat, kauert völlig erschöpft im Straßenstaub. Er erregt die Aufmerksamkeit des Erzählers, der uns als Person erst im zweiten Absatz gegenübertritt: ein Mensch, der von sich kein Aufhebens macht, vermutlich der Internationalen Brigade angehört und an diesem Platz einen militärischen Auftrag zu erledigen hat. Langsam schwinden die Trupps, die Flüchtlingskarren aus dem Blick. Obwohl mit keinem Wort davon die Rede ist, hört man die Stille einziehen - eine unheimliche Stille. Die Brücke wird Niemandsland. Jeden Augenblick können die Vorhuten des Gegners auftauchen. Der ermattete Alte und der Erzähler, der das Anrücken der Faschisten beobachten soll, sind nun die einzigen Menschen weit und breit. Der nachfolgende Dialog, der sich zwischen den beiden Männern entwickelt, dauert bis zum letzten Abschnitt der Geschichte an.


»>Wo kommen Sie her?< fragte ich ihn.
>Aus San Carlos<, sagte er und lächelte.
Es war sein Heimatort, und darum machte es ihm Freude, ihn zu erwähnen, und er lächelte.
>Ich habe Tiere gehütet<, erklärte er.
>So<, sagte ich und verstand nicht ganz.
>Ja<, sagte er, >wissen Sie, ich blieb, um die Tiere zu hüten.
Ich war der letzte, der die Stadt San Carlos verlassen hat.<
>Was für Tiere waren es?< fragte ich.
>Es waren im ganzen drei Tiere<, erklärte er. >Es waren zwei
Ziegen und eine Katze und dann noch vier Paar Tauben.<
>Und Sie mußten sie dalassen?< fragte ich.
>Ja, wegen der Artillerie. Der Hauptmann befahl mir, fortzugehen wegen der Artille-rie. <
>Und Sie haben keine Familie?< fragte ich.
>Nein<, sagte er, >nur Tiere, die ich angegeben habe. Der Katze wird natürlich nichts passieren. Eine Katze kann für sich selbst sorgen, aber ich kann mir nicht vorstellen, was aus den andern werden soll.<
>Wo stehen Sie politisch?< fragte ich.
>Ich bin nicht politisch<, sagte er. >Ich bin sechsundsiebzig
Jahre alt. Ich bin jetzt zwölf Kilometer gegangen, und ich glaube, daß ich jetzt nicht weitergehen kann.<
>Dies ist kein guter Platz zum Bleiben<, sagte ich. >Falls Sie es schaffen können, dort oben, wo die Straße nach Tortosa abzweigt, sind Lastwagen. <
>Ich will ein bißchen warten<, sagte er, >und dann werde ich gehen.<«


Von seiner Sorge um die Tiere kommt der Alte nicht los. Der Erzähler versucht, ihn mit einigen gutgemeinten Worten zu trösten. Der Spanier besitzt seine Sympathie, sein Mitgefühl, doch dessen Verhalten kann der Erzähler kaum begreifen. Er drängt den Flüchtling zum Gehen. Gehorsam richtet sich der Alte auf, aber seine Beine sind zu schwach, er wankt, fällt wieder in den Staub zurück.

»>Ich habe Tiere gehütet<, sagte er eintönig, aber nicht mehr zu mir. >Ich habe doch nur Tiere gehütet.< Man konnte nichts für ihn tun. Es war Ostersonntag, und die Faschisten rückten gegen den Ebro vor. Es war ein grauer, bedeckter Tag mit tiefliegenden Wolken, darum waren ihre Flugzeuge nicht am Himmel. Das und die Tatsache, daß Katzen für sich selbst sorgen können, war alles an Glück, was der alte Mann je haben würde.«

Damit endet die Geschichte.
Die Handlung wird einfach abgebrochen, denn der innere Vorgang, den der Erzähler verdeutlichen wollte, ist abgeschlossen, die Einsicht vollzogen. Die Klage »Ich habe doch nur Tiere gehütet« und der Kommentar »Man konnte nichts für ihn tun« bilden die Kernstelle der Kurzgeschichte. Hier gibt Hemingway seine Ansicht über den Menschen in dieser Zeit preis: Ein hilfloses, ausgesetztes Wesen ist er, den Mächtigen preisgegeben, zu schwach, um sich selbst zu retten. Und weiter: In einer Lage wie der beschriebenen gibt es keinen Unterschied zwischen dem politischen und dem unpolitischen Menschen; beide müssen leiden, keiner kann dem anderen beistehen. Vor dem Untergang, den sie vor Augen haben, ist ihr Glück ein Nichts. — Das sind zutiefst pessimistische Überzeugungen. Ein Jahr nach der Niederschrift dieser Kurzgeschichte brach der Zweite Weltkrieg aus.
Doch zurück zu unserem Text. Was fällt auf? Wo zeichnet sich das Neue ab? Eins deuteten wir bereits an: in der Short-story wird das Entscheidende nach innen verlegt. Daraus ergibt sich für die Komposition der Fortfall der Pointe. Geschehen also, das in eine Kurzgeschichte eingeht, darf keinen übergewichtigen Schluß besitzen, es muß derart gefügt sein, daß seinen einzelnen Teilen ungefähr das gleiche Maß an Bedeutung zukommt. »Die Pointe« schrieb ein namhafter Kritiker zu diesem Thema, »wird gleichsam über das Ganze verteilt.« Daher das Schwebende, das uns an der Form der Shortstory sogleich ins Auge springt, die merkwürdige Balance, die unverfestigten Schlüsse, auf die wir noch zu sprechen kommen werden.
Von der Handlung der Kurzgeschichte müssen wir uns eine lineare Vorstellung machen. Der Erzähler weicht Verschlingungen, Verschachtelungen aus, meidet Knoten und Wirbel. Er baut sie auf in Anlehnung an die Struktur der Zeit, die ihn beschäftigt. Jene Zeit, die in seiner Behandlung Umriß annimmt und zugleich durchscheinend wird, ist »normaler«, gleichmäßiger Ablauf. Was ihn bewegt, sich gerade an diese Zeit-Erscheinung zu halten, mag die Einsicht sein, daß für die Wirklichkeit nicht die großen Momente kennzeichnend sind, nicht die Explosion und Schicksalsstürze, nicht die theatralischen Haupt- und Staatsaktionen, sondern das Simple und Tagtägliche und Unauffällige, kurz gesagt: er hält das weithin Allgemeine für bedeutungsvoller als den atemnehmenden Sonderfall. Wenn man will, kann man in dieser Kunstgesinnung eine »demokratische« Grundhaltung feststellen. Wir müssen uns jedoch davor hüten, das Gewöhnliche mit dem Beliebigen zu verwechseln. Die Kurzgeschichte zeigt ihre handelnden Figuren keineswegs in einem unerheblichen Augenblick ihres Lebens. Wenn wir an Hemingways Story denken, leuchtet uns das sofort ein. Die Situation an der Brücke zeichnet sich zwar nicht durch Ungewöhnlichkeit aus, die Entscheidungen aber, zu denen sie führt, sind ganz und gar nicht belanglos. Der Erzähler stellt also gewissermaßen ein deduktives Verfahren an. Im Allgemeinen des Existierens fixiert er das Bedeutsame. Daher interessieren ihn vor allem solche Lagen, in denen der Mensch Farbe bekennen muß, wo ihm Zusammenhänge aufgehen oder sein Bewußtsein wichtige Erweiterungen erfahrt. Das sind nicht Entwicklungen der Person, wie sie der Romanautor von seinen Helden berichtet. Hier handelt es sich um ein plötzliches Innewerden von Wahrheit, das auf Entschiedenheit im Leben drängt. Genau genommen geht es dem Kurzgeschichtenverfasser demnach um die epische Darlegung und Ausdeutung eines Zeitpunktes. In der Situation nimmt dieser Punkt sinnliche Gestalt an. Bei Hofmannsthal heißt es einmal, Situationen seien symbolisch, und es sei die Schwache der jetzigen Menschen, »daß sie sie analytisch behandeln und dadurch das Zauberische auflösen«. Die Situation besitzt weder einen markanten Anfang noch ein solches Ende. Sie ist ein Zustand der Zeit. Von hier aus läßt sich nun einsehen, warum uns die Schlüsse der Shortstory oft anmuten, als waren sie willkürliche Abbrüche der Fabel oder Kompositionsschwächen schlechthin. Sie sind ja in Wahrheit gar keine richtigen Schlüsse, sondern bloß Ausgrenzungen eines Momentes oder einer Reihe von Momenten gegen die Zukunft. Anstatt zu enden, hört die minimale Handlung der Story einfach auf.
Wir haben nun eine Stelle erreicht, an der die Kurzgeschichte seltsamerweise das Gedicht berührt. Diesen Sachverhalt meinte kürzlich ein junger Erzähler mit der Erklärung, daß die Kurzgeschichte der Lyrik näher stehe als dem Roman. Geschichte wie Gedicht suchen den aufleuchtenden Augenblick, der eine Wahrheit sinnfällig macht. Beide bemühen sich um die Gestaltung einer zeichenhaften Situation. Beide Formen verlangen den knappen, lakonischen Ausdruck. Jedoch bereits dort wird man sich ihres Unterschiedes bewußt, wo sie nach einem tieferen Verhältnis zur Zeit streben. Während die Geschichte in der Zeit aufgeht, will das Gedicht sie übersteigen.
Bisher war nur von dem unsichtbaren »Geschehen« in der Shortstory die Rede. Es versteht sich, daß der Erzähler diese im Verborgenen sich abspielenden Prozesse nicht reflektiv zur Geltung bringt. Seine Mittel sind Schilderung, Dialog. Da er die Denk- und Gefühlsbewegungen seiner Akteure nur höchst selten direkt aufzeichnet, muß man die Geschichten Wort für Wort lesen, mit einer geradezu findigen Aufmerksamkeit, denn die inneren Vorgänge geben sich zumeist bloß in schwachen Verfärbungen und Veränderungen der Oberfläche zu erkennen. Diese Oberfläche der Wirklichkeit wird vom Kurzgeschichtenautor allerdings mit besonderer Sorgfalt behandelt. Mit einer Genauigkeit, wie sie der Epiker sonst kaum übt, bringt er den Augenschein ins Bild. Man hat der Kurzgeschichte eine außerordentliche Wirklichkeitsnähe nachgerühmt - mit Recht! Sie schärft uns alle Sinne. An ihren ungemein konkreten Szenerien kann der Mensch unserer Epoche, den die Zivilisation um die Ursprünglichkeit und Frische in zahllosen Erfahrungen bringt, von neuem lernen, wie die Distanzen das Aussehen der Gegenstände verändern, wie ein Ding riecht und schmeckt, welche Strahlungen die Elemente aussenden. Auch vom Dialog, der in der Shortstory einen breiten Raum einnimmt, läßt sich ähnliches sagen. Er besitzt die Mundwärme ungehobelten Sprechens, bezieht Alltagswendungen und Berufsslang in seinen Wortlaut ein und schreckt nicht davor zurück, Banalitäten zu erörtern. Hier muß das Ohr des Aufnehmenden die Ober- und Untertöne heraushören, ja, eine Witterung entwickeln für das Verschwiegene und für die Andeutungen, die etwa eine Pause macht. All das könnte nun den Eindruck erwecken, als verbreite sich der Verfasser einer Kurzgeschichte weitschweifig über jenes Stück Welt, das seiner Konzeption zugrunde liegt, als schildere er ebenso umständlich wie vollständig. Dies wäre ein Irrtum. Der Erzähler zeigt sich im Gegenteil als ein Meister des Weglassens und Aussparens. Drei, fünf, zehn Seiten — mehr beansprucht er fast nie. Das heißt jedoch nicht, daß er skizzenhaft verfährt oder impressionistisch tupfend. Wir geben zu, eine Shortstory kann im ersten Moment wie eine Skizze wirken. Doch wird man seine Vorstellung rasch korrigieren, sobald man dem Text gleichsam unter die Haut dringt. Die Shortstory ist niemals die Vorstufe eines Werkes, weder die erste Notiz eines plötzlichen Einfalls noch Figuren- oder Milieustudie, sondern ein durchgeformtes, geschlossenes Gebilde, das der Novelle und Erzählung an künstlerischem Wert in keiner Weise nachsteht. Romane sind wiederholt mit Fresken oder Tafelbildern verglichen worden. Demnach könnten wir Erzählungen zu Aquarellen in Beziehung setzen. Die Kurzgeschichte schließlich wäre dann die Graphik der Prosa. Uns scheint dieser Vergleich gar nicht so übel. Das Zeichnen ist in der bildenden Kunst jenes Verfahren, das die Realität weitgehend reduziert, von ihr bloß das Wesentliche stehenläßt. Durch Ausscheiden und Fortlassen wird hier Konzentration erzeugt. Nach dem gleichen Prinzip erreicht auch die Kurzgeschichte ihre Dichte und Intensität. Sparsam verleiht sie der Welt Kontur. Ihre Linien sind messerscharf. Das wenige, das sie umreißen, ist von einer betörenden und gleichzeitig verwundenden Eindringlichkeit. Es schlägt uns in Bann. Uns werden die Augen geöffnet. Zu Anfang der dreißiger Jahre hielt die amerikanische Shortstory in Deutschland ihren Einzug. Wohl wurden von einzelnen ihre Geländeerwerbungen erkannt, ihre neuen Möglichkeiten begriffen, aber zu versuchen, diese Erzählform den hiesigen Verhältnissen anzupassen, kam es nur in geringem Maß. Die Kunstdiktatur des Dritten Reiches ließ keine weiteren Experimente zu. Erst nach 1945 erregte die Shortstory bei uns die Aufmerksamkeit größerer Kreise. Insbesondere die jüngeren Autoren griffen die überseeischen Muster auf und begannen, sie nachzuahmen und aufzuarbeiten. (…)"

(aus: Buchstab, Zauberstab, Eßlingen 1959)